Roman von Sabine Scholl
Wir sind die Früchte des Zorns
"Wir sind die Früchte des Zorns" ist Sabine Scholls vierter Roman, knapp 300 Seiten stark. Im Mittelpunkt stehen die Lebensgeschichten verschiedener Frauen. Die 1959 in Oberösterreich in einem bäuerlichen Umfeld geborene Autorin verknüpft diese und schafft so einen Erzählraum, der sich vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute erstreckt.
8. April 2017, 21:58
Für Sabine Scholl ist es auch das Bekenntnis zur eigenen Familie, eine Selbstverortung: "Ich hab immer die Leute beneidet, die so einen tollen Stammbaum hatten und die Familiendokumente hatten und eine Familiengeschichte, die man nachverfolgen konnte vielleicht bis ins 19. Jahrhundert usw., wo man das lückenlos nacherzählen konnte. Und das gab's eben bei mir nicht. Und trotzdem ist es ja nicht so, dass ich nicht eine Geschichte habe und deshalb war auch das Bedürfnis, das einmal alles zusammenzufassen unter dem Focus der Mutterschaft. Ja, also immer wieder zu untersuchen, wie ist es, Mutter zu sein 1920, wie ist es, Mutter zu sein 1950, wie ist es, Mutter zu sein 2010. Und dadurch auch tatsächlich vielleicht auch eine Phase meines Lebens damit einmal festzulegen."
Doch geht es nicht nur um das Muttersein. Die Autorin beschreibt weibliche Erfahrungswelten, die sie in der eigenen Familie vorgefunden hat. Tatsächliche Strukturen, die vom traditionell propagierten Familienbild abweichen. In Scholls Roman erlangen die Männer Bedeutung vor allem durch ihre Abwesenheit, die entweder eine emotionale oder geografische ist. Die Frauen sind verlassen und versehrt, den Zumutungen des Lebens ausgeliefert: einer rigorosen Umwelt, die jegliche Abweichung von der Norm verurteilt und Erziehungstraditionen, die sie an der Selbstentfaltung hindern.
Die "unsichtbaren" Frauen
Der Roman, aus über fünfzig kleineren Einzelstücken bestehend, ist das feministische Gegenstück zu einer klassischen Familiengeschichte.
"Das war schon auf jeden Fall Absicht", sagt Scholl. "Weil ich in vielen Familiengeschichten immer vermisst habe die unsichtbar gemachte Arbeit der Frauen für die Familien, die ja besonders in den vorhergehenden Generationen relativ undokumentiert blieb; und besonders eben aus den Schichten, aus denen meine Vorfahren stammen, aus bäuerlichen Zusammenhängen. Es ist, als wäre die Geschichte ohne sie ausgekommen und das wollte ich mal ganz bewusst umdrehen und wollte sozusagen ihre Perspektiven hervorrücken und diese weißen oder unbeschriebenen Flecken mal doch auch mit Geschichten, mit, ja, Wertschätzung besetzen."
Die Autorin arbeitet die Muster heraus, die das Leben ihrer Großmütter, ihrer Mutter und Schwiegermutter, wie auch ihr eigenes und das ihrer Tochter geprägt haben. Sie spricht von den Erfahrungen, die sich als "familiäre Aufträge" von einer Generation auf die nächste übertragen, auch wenn sich die Zeiten ändern. Scholl erkennt mit klarem Blick die Konstanten weiblicher Existenz in ihrer Familie. Benennt sie, schreckt nicht vor unliebsamen Wahrheiten zurück. Schreibt offen auch über eigene Ängste, Zweifel und Minderwertigkeitsgefühle.
Botschaften an das Baby
Als die Schwiegermutter Odette in Frankreich im Sterben liegt, ist die Erzählerin in Chicago mit ihrem zweiten Kind schwanger.
Zitat
Das Baby in meinem Inneren empfängt Botschaften von Odettes Nähe zum Tod. Saugt mit seinem Daumen meine Sorge ein. Anstatt die gute Hoffnung auf das Baby zu verteilen, verbrauche ich sie für Tröstungen an Odettes Sohn. Das Baby in mir lernt von Zweifeln und von Bangigkeit, lernt, dass das zweite Kind keine Sensation mehr ist. Lernt, dass die Mutter sich nicht schont, dass sie nicht mehr darauf schaut, wie es ihr selbst geht, sondern dass sie vor allem andere umsorgt. Ich löse mich auf in Beklommenheit.
Chicago, New York, Paris, Versailles, Berlin, Wien und ein Sommerhaus im ländlichen Österreich sind die Schauplätze, an denen Sabine Scholl in knapper, prägnanter Sprache, in präzisen Dialogen mit großer Intensität tatsächlich einem Prototyp weiblicher Existenz auf die Spur kommt. Ihre Frauenfiguren wirken dokumentarischer als bei Horvath, Haushofer und Jelinek, doch sind sie gleichwohl mit ihnen verwandt.
Schlaglichtartig beleuchtet
Scholl erzählt ihre Familiengeschichte nicht chronologisch, nicht episch, sondern beleuchtet schlaglichtartig aussagekräftige Situationen. Dabei switcht sie zwischen den einzelnen Figuren hin und her, auch die Haltung der Erzählerin wechselt, mal spricht sie in der ersten, dann wieder in der dritten Person.
"Also ich denke, das ist eher eine realistischere Form als zu sagen, ja ich bin immer dieselbe und da steh ich jetzt und ich weiß, es war so und die war so und so", meint Scholl. "Das würde ich mir überhaupt nie anmaßen können. Weil jeder der jetzt zum Beispiel auch in einer Geschichte, die da dargestellt ist, beteiligt war, würde sie ja völlig anders erzählen."
Obwohl der Grundstoff des Romans aus Erlebnissen stammt, die die Autorin in ihrer Familie hatte oder die sie dort in Erfahrung brachte, möchte sie ihren Roman nicht autobiographisch nennen, sondern autofiktional: "Autofiktional in dem Sinn, dass es da immer eine Spaltung gibt, die nicht ständig da ist, aber die immer wieder passiert, also deswegen habe ich ja ganz oft in der dritten Person geschrieben, also besonders, wenn es um 'Die Mutter' geht; und dieses Hin-und Herswitchen, auch zum Beispiel Einsteigen in die Figuren der Vorfahrinnen, da würde ich eben sagen, das ist schon darüber hinaus jetzt über die gängige Vorstellung eines autobiografischen Romans. Sondern es ist immer wieder fiktionalisiert und auch das Ich bricht sich immer wieder in verschiedenen Rollen."
Gefangen in Konventionen
Zitat
Hanna, meine Großmutter, Mutter meines Vaters, kennt den Hunger seit sie lebt. Erst nachdem das Vieh, die schwarzen Käfer, die weißen Würmer, die Kinder, die Männer gegessen haben, kommt sie dran. Sie ist 1909, fünf Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs, geboren. Hanna schimpft, verteilt Ohrfeigen, zieht an Haaren, kommt mit dem Pracker, so nennt sie den aus Weiden gebogenen Teppichklopfer, mit dem sie ungezogenen Enkeln auf den Hintern schlägt. Sie hat immer recht, Haare wachsen an ihrem spitzen Kinn, die wackeln, wenn sie spricht. Als Kind schwöre ich mir, dass ich nie so aussehen will wie sie, obwohl wegen des Kinns Gefahr besteht.
Die Großmütter Hanna und Martha, Mutter Erika und Schwiegermutter Odette - sie alle sind gefangen in Konventionen und den Erwartungen der Gesellschaft.
Sabine Scholl, das erzählt der Roman auch, konnte sich aus der engen, leidensträchtigen, von unterdrücktem und beschwiegenem Seelenschmerz geprägten Atmosphäre ihres Eltern- und Großelternhauses distanzieren. Mit Hilfe der Literatur.
"Das schimmert ja auch immer wieder durch in diesen Erzählungen in dem Roman, dass die Literatur eigentlich das war, wo ich mich gefunden habe, das war eigentlich die erste wirkliche Heimat, die Sprache und die Geschichten in den Büchern, die da ja oft zum Teil wie Müll herumgelegen sind", so Scholl. "Da hab ich mich so hineingegraben und da hab ich irgendwie gesehen, da ist etwas möglich, da kann man Welten verändern über die Sprache und es war mir von Anfang an klar, also schon, als ich in die Schule kam, dass ich wahrscheinlich schreiben würde, dass ich Schriftstellerin werden würde."
Zusammengenäht
Zitat
Fäden und Textilien bilden Verbindungslinien zwischen Generationen von Frauen. Die Häute, die ich von meiner Familie übernehme, sind eng gespannt. Sie abzuziehen tut weh. Aber sie anzubehalten, schmerzt noch mehr. Ich reiße mich auf. Meine Mutter Erika zertrennt alte Kleider, nutzt die Stoffe, näht Neues daraus. Als Kind verbringe ich ganze Nachmittage mit ihr und blättere durch geborgte Kataloge voller Stoffproben. Ich wähle aus, weise meine Mutter auf Vorlieben hin, während ihre Nähmaschine schnarrt. Nur in Gemeinschaft mit der Nähmaschine gelingt eine Nähe zwischen uns. Wir brauchen die Maschine. Sie näht uns zusammen.
Und so wie einst die Mutter die Maschine gebrauchte, so bedient sich die Tochter heute der Literatur. Vielleicht hat diese Familiengeschichte, die von so viel Zorn und Unterdrückung berichtet, von Ungerechtigkeit, aber auch von einem enormen Selbstbehauptungswillen der Frauen, doch ein Happy-End. Einfach nur, indem man darüber spricht, sich mitteilt.
"Das Positive bleibt für mich auf jeden Fall in der Sprache, in der Literatur. Ich hab einfach im Lauf der Jahre gemerkt, dass die Literatur mein Überlebensmittel ist, das Schreiben, das Lesen ist mein Überlebensmittel und dadurch gelingt es mir auch vielleicht, schwierige Erfahrungen, auch schwere Geschichten anderer Menschen, die mir nahe sind, in eine Form zu bringen, und sie vor mich hinzustellen und sie in dieser Weise auch zu lieben."
Service
Sabine Scholl, "Wir sind die Früchte des Zorns", Secession Verlag für Literatur
Secession Verlag