Roman nach Büchner von Eduard Habsburg

Lena in Waldersbach

Georg Büchners Novelle "Lenz" ist einer der Diamanten der deutschsprachigen Erzählkunst. In diesem Fragment gebliebenen Text schildert der ausgebildete Physiologe und Dichter Büchner versachlicht, aber auch mit Empathie den Zerfallsprozess des Sturm-und Drang-Dichters Jakob Michel Reinhold Lenz.

Georg Büchners Novelle "Lenz" ist einer der Diamanten der deutschsprachigen Erzählkunst. In diesem Fragment gebliebenen Text schildert der ausgebildete Physiologe und Dichter Büchner versachlicht, aber auch mit Empathie den Zerfallsprozess des Sturm-und Drang-Dichters Jakob Michel Reinhold Lenz.

Eine "literarische Aneignung"

Zu Büchners analytischer Arbeitsweise gehörte es, Quellen zu benützen. In der Flugschrift "Der Hessische Landbote" übte Büchner Sozialkritik, die er mit statistischen Fakten absicherte. Im Drama "Dantons Tod" wurden die Reden der Jakobiner aus dem Konvent teilweise im Wortlaut wiedergegeben. Im "Woyzeck" skizzierte Büchner die Sozialpsychologie eines Gedemütigten und benützte als Quelle die Protokolle des Nervenarztes Clarus. Für die Erzählung "Lenz" verwendete Büchner den Bericht des Pfarrers Oberlin. Dieser Pfarrer aus den Vogesen hatte den unruhigen, geplagten Dichter Lenz wie ein Vater bei sich aufgenommen.

Eduard Habsburg nimmt in "Lena in Waldersbach" direkt Bezug auf Büchners "Lenz", man könnte von einer literarischen Aneignung sprechen, getragen von dem Versuch, mit Büchners "Lenz" im literarischen Gepäck, gleichsam eine eigene Geschichte zu erzählen. Habsburgs Hauptfigur Lena hat eine Reclam-Ausgabe von Büchners Meisterwerk bei sich. Sie möchte ein Referat über den "Lenz" schreiben und ist von Frankfurt her kommend in die Vogesen aufgebrochen, um vor Ort zu recherchieren. Eine ehrgeizige Schülerin, die weder Kosten noch Mühen scheut, ist man gewillt zu denken, doch da täuscht man sich. Wie sich herausstellt, geht es dem Mädchen gar nicht um die Literatur, sondern um die Aufarbeitung ihrer traurigen Familiengeschichte.

Vorbild "Lenz"

Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ihr der geliebte Vater erklärt, dass Büchner im Allgemeinen und der "Lenz" im Besonderen sein Lieblingsschriftsteller, bzw. sein Lieblingstext wären. Eines Tages, unvorhersehbar für Tochter und Mutter, verließ er die Familie und blieb seitdem verschwunden. Er, der sich sonst sehr um seine Tochter gekümmert hatte, hinterließ als letzten Gruß einen mit Bleistift unterstrichenen Satz aus Büchners "Lenz". Er lautet: "Ja, ich halt es aber nicht aus; wollen Sie mich verstoßen? Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott."

Was sollte das bedeuten? Dass es Papi mit Mami nicht mehr ausgehalten hatte, dass er hoffte, die Tochter würde ihn deswegen nicht verstoßen, denn in ihr sei ein Weg zurück, wenn man so will, zum Leben? Die Tochter wird daraufhin nicht müde, den Text zu durchpflücken, um Spuren und Hinweise auf den jäh aus ihrem Leben verschwundenen Vater herauszulesen.

Realität und Einbildung verfließen

Schließlich glaubt sie, das Geheimnis seines Verschwindens lösen zu können, wenn sie an den Schauplatz von Büchners "Lenz" fahren würde. In den Vogesen hofft sie, den Vater zu finden. Vor ihrem Aufbruch hat sie einen Streit mit der Mutter, die gegen diese Reise ist. Für ein Referat kurz vor Schulende muss man nicht so viel Aufwand betreiben, meint sie, die wahren Absichten ihrer Tochter nicht kennend. Im Zuge dieses Streits bildet sich Lena ein, die Mutter mit einer Vase in einem Moment des Außer-sich-seins erschlagen zu haben.

Wie dereinst Lenz von Oberlin, wird Lena in Waldersbach von einem Pastor aufgenommen. Der evangelische Priester und seine Frau bieten ihr Kost und Logis. Realität und Einbildung fließen ineinander, vermischen sich immer stärker in Lenas Bewusstsein. Sie wird von temporären Wahnvorstellungen geplagt. Beinahe gewinnen Imagination und Wahn die Oberhand. Doch da gibt es neben dem Pastor und seiner Frau noch ein paar gute Menschen, darunter ein junger Mann, die das Schlimmste verhindern.

Gescheiterter Versucht

Soweit die Story. Wie funktioniert nun Habsburgs Versuch, in Anlehnung an Büchners "Lenz" eine eigene Geschichte zu erzählen? Um es kurz zu machen: Es funktioniert nicht. Wie eingangs erwähnt, hat der literarische Analytiker Georg Büchner gerne auf Quellen zurückgegriffen. Allerdings verstand er es, das fremde Material derart in seine Werke zu integrieren, dass man den Eindruck gewinnt, alles stamme aus seiner Feder. Und eben über diese Fähigkeit des integrativen Zitierens verfügt Habsburg nicht. Ein Beispiel:

"Es wurde ihr entsetzlich einsam; sie war allein, ganz allein" ist ein Zitat aus dem "Lenz". Lediglich das "ihr" und "sie" ist durch ein "ihm" und "er" zu ersetzen. "Es war zum Heulen hätte sie doch das Handy mitgenommen" stammt von Eduard Habsburg. Ich möchte nicht so weit gehen und sagen, Habsburgs Büchner-Adaptierung ist zum Heulen, denn vor allem im Mittelteil der Erzählung gelingen ihm mitunter atmosphärische Verdichtungen, die zwar nicht an das Original heranreichen, aber dennoch erzählerische Kraft besitzen. Dennoch ist Habsburgs literarischer Versuch im Ganzen gesehen gescheitert. Nicht im Geringsten erreicht er Büchners poetische Unmittelbarkeit.

Gegen die Gebote der Wahrscheinlichkeit

Hauptfigur Lena, mit Internet und Social-Media aufgewachsen, kommt nicht auf die Idee, im Internet nach dem vermissten Vater zu suchen. Das muss ihr erst der neu gewonnene junge Freund erklären. Woraufhin sie auch sogleich fündig wird, und schon geht's mit dem Motorrad auf nach Paris, denn dort lebt mittlerweile der Vermisste.

Ein Ende mit optimistischem Ausblick, Büchners "Lenz" hingegen endet pessimistisch: "Sein Dasein war ihm eine notwendige Last.- So lebte er hin." Mit diesen Worten bricht der Text ab.

Georg Büchner hat im "Lenz" auch sein ästhetisches Programm ausgedrückt: Er spricht sich mittels seiner Hauptfigur gegen Idealismus, Scheinwirklichkeit und Wirklichkeitsverklärung aus, stattdessen fordert er Lebenswahrheit und Realitätsperspektive. Habsburg hingegen geht letztlich genau in die entgegengesetzte Richtung, er idealisiert und kleistert gegen die Gebote der Wahrscheinlichkeit eine Geschichte zusammen. Man sollte Georg Büchner zumindest ansatzweise verstanden haben, bevor man sich an eine Adaptierung wagt.

Service

Eduard Habsburg, "Lena in Waldersbach", C. H. Beck

C. H. Beck