Martin Schulz zu Europas letzter Chance
Der gefesselte Riese
So weit ist es also gekommen mit der Europäischen Union, mit diesem noch recht jungen und vielfach unausgereiften politischen Gebilde - oder "Projekt", wie manche sagen: Die Grabgesänge werden quer über den Kontinent angestimmt, sie werden lauter und nicht zuletzt von jenen - sagen wir: mitgesummt, die eigentlich dafür gewählt wurden, dieses Gebilde oder Projekt am Laufen zu halten.
8. April 2017, 21:58
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Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist das Scheitern der Europäischen Union ein realistisches Szenario. Dieses Scheitern ist nicht unabwendbar, aber es wird immer häufiger diskutiert und hat für manchen seinen Schrecken verloren.
Euroskepsis ist in Mode, nicht nur die Gemeinschaftswährung betreffend. Mit Euroskepsis kann man auf nationalstaatlicher Ebene als Regierungspartei wie auch als Opposition Stimmung machen, Wähler mobilisieren und - da wird's dann gefährlich: die Bürger durch ideologische Labyrinthe jagen, aus denen sie nur herauskommen, wenn eine starke Hand sie zu leiten verspricht. Populisten, egal welcher Couleur, setzen immer auf Zerstörung und Neubeginn unter strenger Kontrolle und straffer Führung. Alles ganz demokratisch natürlich.
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Ich bin pessimistisch, ob wir im Falle eines Scheiterns der EU den friedlichen Geist beibehalten werden. Schon in der aufgeheizten Debatte der letzten beiden Krisenjahre haben wir in allen Ländern Europas wieder die hässliche Fratze des Nationalismus' gesehen. Dieses Aufwallen nationaler Emotionen und Befindlichkeiten nach einem sechzig Jahre anhaltenden Prozess der europäischen Einigung mag viele erstaunen. Mich überrascht es nicht.
Reizwort "Demokratie"
Demokratie - das ist das Reizwort, auch für Martin Schulz, den Präsidenten des Europäischen Parlaments und vielleicht wichtigsten Sozialdemokraten in Brüssel. Als demokratisch wird manches verkauft, was mit Demokratie nicht viel zu tun hat. Das wissen wir und das weiß Schulz. Wo es um Macht geht, agieren gewählte Parteien mitunter undemokratisch, die verschiedenen Interessen der Bürger werden als Belastung angesehen, wohingegen die verschiedenen Interessen der Industrielobbys in Gesetze und Verordnungen münden, die überhaupt nicht im Sinn der Bürger sind. Diese fühlen sich verwaltet, bevormundet und von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen.
Was auf nationaler Ebene schon schwer erträglich ist, mutiert im fernen und als bürokratisches und politisches Gebilde reichlich abstrakten Brüssel zum Alptraum, zur alles verschlingenden Riesenkrake, deren Gehirn von einer Handvoll Großkonzerne und machtbesessenen Politikern gesteuert wird.
Das Problem ist, schreibt Martin Schulz, dass das zum Teil stimmt, dass aber die Fehler im System gleich das ganze System als fehlerhaft erscheinen lassen. Anders gesagt: Die Europäische Union mit ihren Institutionen ist besser als ihr Ruf. Das ist Schulz' Botschaft, die er mit großem Enthusiasmus vorträgt. Das klingt nach nicht viel, erwartet man sich von einem Spitzenrepräsentanten der Union doch nichts anderes als eine Verteidigung derselben, ohne die seine Karriere weniger glanzvoll verlaufen wäre.
Krankheit Struktur
Doch Schulz, der gelernte Buchhändler, hat offensichtlich ein Gespür für gute Geschichten und eine Abneigung gegen den routinierten Ghostwriterstil, der den meisten Politikerbüchern eigen ist.
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Bei der nächsten Reform der Europäischen Verträge sollte das Amt des Ratspräsidenten ganz abgeschafft werden. Die Regierungschefs, die bislang auf ihren Gipfeltreffen so tun, als seien sie die eigentliche europäische Regierung, werden sich dann bescheiden müssen und endlich die Funktion einnehmen, die den Regeln der Gewaltenteilung entspricht, nämlich die einer zweiten Kammer.
Das ist im Augenblick noch ein Wunschszenario. Uneitel, mit großer Kenntnis und Aufklärungsbereitschaft umkreist Martin Schulz die aktuelle Kritik an der Union, also etwa das Vorgehen Brüssels bei der Stabilisierung des Euro, das gönnerhafte Verhalten der reichen gegenüber den ärmeren Mitgliedern, den Zerfall der Solidarität, die fehlende Übereinstimmung bei wichtigen Entscheidungen, bürokratischen Wildwuchs, die zögerliche Erweiterungsdebatte, um eines klar zu machen: nicht Europa ist das Problem, auch nicht die Bürokratie - der Beamtenapparat ist nicht größer als der einer mittleren Großstadt wie München.
Wie bereits Robert Menasse in seinem Essay "Der europäische Landbote" deutlich gemacht hat, krankt die Europäische Union an einer Struktur, von der jeder weiß, dass sie nicht funktionieren kann, im Augenblick aber niemand daran interessiert ist, diesen Umstand zu ändern: das mangelnde Zusammenspiel von Europäischer Kommission - also dem Verwaltungsapparat, Europäischem Rat - also den Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die eher nationale Interessen vertreten, und dem Europäischen Parlament, der einzigen auf Wahlen beruhenden Institution, deren Kompetenz aber nicht vergleichbar mit nationalen Parlamenten ist.
Interessenskonflikte führen zwischen diesen drei Institutionen nicht selten zu Blockaden, zu Verzögerungen, zu Verwässerungen, was dazu führt, dass Brüssel entweder den Ruf hat, mit großem Aufwand nichts hervorzubringen - oder das Falsche. Das ist Schulz klar, er versucht aber auch zu belegen, dass die Europäische Union nicht nur auf Probleme reduziert werden kann und dass sie vor allem langfristig den Kontinent stabilisiert hat. Dieser Aspekt, die politische Stabilität nämlich, ist nach Schulz' Auffassung die Grundlage für wirtschaftliche Stabilität beziehungsweise Wachstum, weshalb für ihn die Türkei früher oder später dazu gehören muss.
Werte statt Wirtschaft
Es geht, so Schulz, zuerst um Werte und erst in zweiter Linie um Ökonomie. Globaler Konkurrenzdruck dürfe nicht dazu führen, dass die EU zu einem reinen Wirtschaftsblock verkomme, der Traditionen europäischer Politik wie etwa den Sozialstaat oder die Konsensdemokratie hinter sich lasse.
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Europa ist eine Idee. Diese Idee unterscheidet sich von den Ideen in anderen Weltregionen. Es ist die Idee einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft, in der niemand zurückgelassen wird und jeder eine zweite Chance bekommt, und es ist die Idee, dass es trotz kultureller Vielfalt eine Einheit geben kann.
Nicht was Martin Schulz in seinem Plädoyer für eine funktionierende Europäische Union einfordert ist überraschend, sondern wie er über die Zukunft nachdenkt ist bemerkenswert: wütend und enttäuscht nämlich über die Engstirnigkeit und wohl auch Unfähigkeit jener, denen der kurzfristige Erfolg auf nationaler Ebene wichtiger ist als der langfristige Erfolg eines Unterfangens, das aus den Erfahrungen zweier Weltkriege hervorgegangen ist. Es ist das Solidaritätsprinzip, das sicherstellen soll, dass auf europäischem Boden gewaltsame Konflikte der Geschichte angehören.
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Martin Schulz, "Der gefesselte Riese. Europas letzte Chance", Rowohlt
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