Ansichten von Arno Gruen

Dem Leben entfremdet

Arno Gruen hat eine Botschaft, und diese Botschaft verkündet der Zürcher Psychoanalytiker in jedem seiner Bücher von neuem: Hass und Gewalt kommen durch nicht-liebende Eltern in die Welt, postuliert der 90-Jährige auch in seinem jüngsten Buch mit der ihm eigenen Emphase.

"Leider ist es so, daß viele Menschen, vielleicht ein Drittel, im Aufwachsen sehr wenig Liebe erhalten", so Arno Gruen. "Was sie lernen, ist auch, daß die Beziehung zu den Menschen, die die wichtigsten für sie sind, Mutter und Vater, dass sie ganz früh lernen, sie müssen den Erwartungen der Eltern entsprechen, um eine Bindung mit ihnen zu haben, um sich nicht abgelehnt zu fühlen, Kälte zu erleben. Da merken Kinder ganz früh, dass sie das Bild, das ihre Eltern von sich haben, akzeptieren müssen, dass sie sozusagen die Propaganda, die Eltern von sich selbst produzieren, als Wirklichkeit akzeptieren müssen, nicht, was jedes Kind ganz früh erlebt, wie die Eltern wirklich sind. Das ist zu bedrohlich. Ein Kind kann ja nicht damit leben, dass die Eltern nicht-liebend sind, dass sie hasserfüllt sind ihren Kindern gegenüber. Kinder müssen sich dann auf das Image als die einzige wahre Realität verlassen, das müssen sie als die einzig reale Wahrnehmung erkennen. Sie können nicht mit der Wahrheit der Eltern leben. Ich würde sagen, dass mindestens ein Drittel, wahrscheinlich aber die Hälfte der Bevölkerung in unseren Kulturkreisen schon ganz früh darauf geprägt werden, nicht auf die Wirklichkeit des anderen einzugehen, sondern auf das Image, das er von sich projiziert."

Daher kommt auch das Bedürfnis vieler Menschen, autoritäre Volksverhetzer oder narzisstische Polit-Parvenues zu umjubelten Idolen zu erheben, meint Arno Gruen. Nichts von dem, was in "Dem Leben entfremdet" zu lesen steht, wird den Kennern früherer n Gruen-Texte überraschen. Der in Zürich lebende Theodor-Reik-Schüler lässt die großen Themen seines Lebens noch einmal Revue passieren in diesem Buch.

Entwicklung von Feindbildern

Wie kommt das Böse in die Welt? Das ist vielleicht die zentrale Frage, die Gruen umtreibt. Seine Antwort: Menschen wie Hitler, Stalin, Mussolini, aber auch der Nietenarmbänder tragende Kampfhundbesitzer von nebenan, der seine Frau im Suff mit Fußtritten zu traktieren pflegt - sie alle sind als Kinder systematisch gedemütigt, verhöhnt, heruntergemacht worden.

Der Mechanismus ist Gruen zufolge immer der gleiche: Das gedemütigte Kind kann seine Wut nicht gegen die Eltern richten. Schließlich will der kleine Mensch die Eltern nicht noch mehr gegen sich aufbringen. So bleiben ihm genau zwei Möglichkeiten: Er wendet seine Aggressionen gegen sich selbst und entwickelt später als Erwachsener autodestruktive Verhaltensweisen - oder er beginnt seine Wut immer unverhohlener auf Menschen oder Gruppen zu richten, die scheinbar schwächer sind als er.

Hier haben die Feindbilder dieser Welt ihre Ursachen. Indem man Schwarzafrikaner, Juden, Türken, Behinderte, wen auch immer, heruntermacht, fühlt man sich selbst irgendwie bedeutsamer. Es handelt sich allerdings um eine Pseudo-Bedeutsamkeit, die sich nicht aus lebendigen Quellen speist, sondern sich letztlich, so Gruen, einer unterschwelligen Todes-Obsession verdankt.

Die Bereitschaft zu Hass und Gewalt wurzelt ausnahmslos in unbewusstem Selbsthass, weiß Arno Gruen. Die Wut - in frühester Kindheit durch Unterdrückung des Eigenen entfacht - diese Wut sucht sich Ersatz-Objekte. Im schlimmsten Fall mündet sie in Mord, Terror, Genozid.

"Vielen von diesen mörderischen Menschen finden ihre Bedeutung - da sie im Inneren keine haben", so Gruen. "Wenn man keine Liebe erfahren hat, ist das Einzige, was einem übrig bleibt, eine fiktive Kraft, die auf scheinbar ideologischen Gründen beruht. Aber die Ideologie ist nur ein Vorwand."

Gut für "Gutmenschen"

Arno Gruen hat viele Fans. Wie die Bücher Alice Millers oder Erich Fromms sprechen auch die seinen eine ganz bestimmte Klientel an. Zyniker würden Arno-Gruen-Aficionados "Gutmenschen" nennen. Die Bücher des Zürcher Psychoanalytikers werden in den Augen seiner Kritiker vorwiegend gelesen von friedensbewegten Christen, grün-alternativen Pädagoginnen, kirchentagsbeseelten Menschenrechts-Aktivisten. Zu den Glaubensgewissheiten dieser Milieus passt der rousseauistische Ton, der sich durch alle Texte Arno Gruens zieht:

"Die Geschichte der großen Zivilisationen ist die Geschichte der Unterdrückung unserer empathischen Natur", schreibt Gruen in seinem neuen Buch: "Dadurch verlieren wir die ursprüngliche, jedem Menschen gegebene Fähigkeit, in der Wirklichkeit zu leben. Wir haben uns dem Leben entfremdet."

Der Fluch des Kapitalismus'

Der Mensch ist gut, es ist die arbeitsteilige, auf Eigentum und Ausbeutung Schwächerer beruhende Gesellschaft, die ihn schlecht macht. Zivilisationskritische Prämissen dieser Art ziehen sich als unhinterfragte Leitmotive durch Gruens Buch. Früher, als unser Ahnen noch als Jäger und Sammler durch Haine und Fluren streiften, früher war alles besser, behauptet Gruen.

Apodiktische Aussagen dieser Art stimmen misstrauisch. Eine Ausbeutung von Menschen durch Menschen fand in archaischen Gesellschaften nicht statt, proklamiert Arno Gruen. Woher weiß der Mann das so genau? Die Kulturen der Jäger und Sammler als elyseische Idyllen? Vieles spricht dafür, dass Vorstellungen dieser Art auf idealisierendem Wunschdenken beruhen - genau das wird Arno Gruen von seinen Kritikern regelmäßig vorgeworfen.

Im Grunde repetieren Gruens Bücher die ideologischen Schablonen linker Zivilisationskritik im 20. Jahrhundert - von Erich Fromm bis Margaret Mead. Das gibt seinen Texten etwas sympathisch Unzeitgemäßes. Andererseits: Wer einen unbefangenen Blick auf den Zustand unserer Welt wirft, auf all das Leid, das Menschen einander in Syrien, Somalia, Nordkorea, dem Irak und anderen Weltgegenden zufügen, wer die deprimierende Gewalttätigkeit der menschlichen Spezies in den Blick nimmt, wird es sich manchem Einwand zum Trotz nicht leisten wollen, auf Arno Gruen und seine Bücher zu verzichten.

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Arno Gruen, "Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden", Klett-Cotta

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