Der Klang von Chicago

Chicagos Bahnhof empfängt die Reisenden in einer stickigen, niederen Ankunftshalle: dicker, gelb verblichener Teppichboden, helle Spuren vom Straßensalz eines langen, schneereichen Winters. Es stinkt.

So klingt Chicago:

Willis Tower

(c) MAURY, EPA

Auf Bildschirmen laden bunte Bilder der TV-Nachrichtenkanäle zur Berieselung ein. Ein abweisender Transitionsraum. Einige Schritte, die Straßenunterführung hindurch, öffnet sich die historische Ankunftshalle der Union Station. Reisen und Ankommen mit Stil! Tageslicht, anstatt des Flimmerns der Neonröhren und des Brummens der Aircondition.

Mitte der 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war die Union Station Chicagos früher architektonischer Stolz. Der Name weist darauf hin: die Bahngewerkschaft wurde hier gegründet. Ein neoklassizistischer Saal, luftige 40 Meter hohe Wände, als Decke eine beeindruckende Glas-Stahl Konstruktion. Willkommen an der Third Coast, der "dritten Küste" der USA.

Leise und bedächtig schreitet man durch die Ankunftshalle. Benutzt wird sie heute für Galaveranstaltungen oder für politisches Fundraising. Barack Obama hat hier gegessen, Hillary Clinton wird 2016 hier essen. Müden Reisenden bietet sie kaum einen Sitzplatz. Mies Van der Rohe, Frank Lloyd Wright oder eben der Planer der Union Station, Daniel Burnham, alle großen US-Architekten verewigten sich in der Stadt am Michigan Lake.

Chicago ist die USA. Mehr noch als ihre Großstadt-Konkurrenz New York an der Ostküste oder Los Angeles im sonnigen Kalifornien. Das Amerika der Deutschen, Polen, Italiener, osteuropäischer Juden. Und Burgenländer. Von "Little Eisenstadt" ist nichts mehr zu sehen, nur mehr zu lesen im Netz: ab 1890 gaben mehrere 10.000 die weinseligen Landstriche für die Windy City auf. Einst Zentrum einer stolzen Arbeiterschaft, der Gewerkschaften und der Mafia, ist Chicago heute Corporate America. Versicherungen, Banken und Investmentfonds verleihen großspurig den Flaktürmen der Finanzindustrie in Downtown ihren Namen. Was wird ihr historisches Vermächtnis sein?

Beleuchtet wird die Stadt in verdächtigem Blau. "Blue Cherries" werden sie genannt: blau beleuchtete 360-Grad-Überwachungskameras an Straßenkreuzungen stigmatisieren Orte als gefährlich - oder vielmehr als sicher. Von dort, wo sie angebracht sind, ist die Gefahr, bzw. die Kriminalität ein paar Straßenecken weiter weg gezogen. Welcome to the Murder City USA. Kein Tag vergeht in Chicago ohne Mord.