Lady Gagas Videos
Thomas Mießgang hat sich drei Songs von Lady Gaga vorgenommen und kommentiert sie - nicht unbedingt wohlgesinnt.
8. April 2017, 21:58
"Born This Way" - 110 Millionen Klicks auf YouTube
Wenn Bernard Herrmanns Präludium zum Film "Vertigo" in Lady Gagas Video "Born This Way" erklingt, dann weiß man: Jetzt kommt großes Hollywood-Kino, wenn auch in einer Nussschale von sieben Minuten. Es geht um nichts weniger als um die Geburt des Muttermonsters, um eine neue Schöpfungsgeschichte und um einen visuellen Maximalismus, dessen Ziel und Zweck darin besteht, den Betrachter platt zu machen.
Frau Germanotta alias Lady Gaga erzählt von der Erschaffung einer außerirdischen Rasse, "die keine Vorurteile kennt, keine Vergeltung, nur unendliche Freiheit". Sie erscheint als Cyborg-Königin auf einem Thron, der sich im All dreht. Eine Figur, die sich plötzlich in ein doppelköpfiges Monster verwandelt. Denn wo Gut ist, muss auch Böse sein.
Man darf an Janus denken, den Gott des Ursprungs und der Wandlungen und an das Spiegelstadium des Psychoanalytikers Jacques Lacan. Gaga, die bereits eine Reihe von Babymonstern aus ihrem Schoß entlassen hat, gebiert nun eine Maschinenpistole und feuert sie ab. Gut und Böse, die ewige Dialektik des Menschlichen als Science-Fiction-Spektakel in der Erbfolge von Stanley Kubricks 2001.
Gaga als Cyborg-Königin
Dummerweise setzt nach dem langen Vorspiel irgendwann die Musik ein und mit dem Erlöschen des Orchesterzaubers werden wir aus den Tiefen des Alls zurückgeholt in jenes High-Definition-Eurotrash-Land, in dem sich Gaga so wohl fühlt: Rumpelige Synthis, Bauern-Beats, wie sie DJ Ötzi nicht plumper aus dem Computer saugen könnte, und eine Akkordsequenz wie aus dem Handbuch für Werbejingles. Warum eine ganze Armee von Komponisten und Arrangeuren aufgeboten werden musste, um diesen Furz im Uhrgehäuse zu erstellen, bleibt ein Rätsel - das ist wohl die Logik eines Geschäfts, das immer mit Masse protzt, wenn es an Klasse mangelt.
Aber um Musik ging es ja noch nie im Universum der Lady Gaga. Viel mehr um schwurbelige Messages, die zwischen Totem und Tabu angesiedelt sind und in visueller Assoziationslogik Schockbilder und Genrereminiszenzen zu einem Plädoyer für Freaks, Außenseiter und die Verdammten dieser Erde verdichten. "Don't be a drag, just be a queen" heißt der Schlüsselvers aus dem Song. Und Gaga bewegt sich dazu im Bikini der Designerin Tra La La, der ihren vermutlich digital retuschierten Hardbody einem durchaus heteronormativen Begehren anbietet, durch eine Serie von Chorographien, die, so die Künstlerin, von den Choreographien des Modern-Dance-Meisters Alvin Ailey inspiriert sind. Die Transgender-Alien-Queen einmal als schlichtes Boy-Toy für den male gaze der schweigenden Mehrheit. Nur um dann wieder einen Todestanz mit dem als Ganzkörperskelett tätowierten Performer Eric Genest, besser bekannt als Zomby Boy, aufzuführen.
Aber Paradoxien und Widersprüche gehören genauso zu diesem differenzgestählten Pop-Entwurf, der alle Aussagen in Anführungszeichen setzt und einen permanenten Taumel fluktuierender Zeichen inszeniert, wie die oberschlauen Verweise auf dekontextualisierte Fundstücke und Raubkopien aus der Kunst- und Filmgeschichte: Die schwarzweiße Spirale, die den Körper der Künstlerin einsaugt, wurde direkt aus dem Hitchcockfilm "Vertigo" ins Video gepastet, die deformierten Körper und abgeschlagenen Köpfe, die immer wieder auftauchen, scheinen einem Gemälde von Francis Bacon entsprungen zu sein. Und die metallisch schimmernden Cyborg-Rüstungen und Stahlhelme erinnern an den Film "Metropolis" von Fritz Lang oder an die zeitweilig rasend populäre Posterkunst von H. R. Giger.
Auf dem Beipackzettel zum Video liefert die Lady noch nach, dass sie sehr stark von Dalis Surrealismus beeinflusst gewesen sei. Zitate der Kunst, Kunst des Zitats, whatever. Am schönsten hat die Journalistin Ann Powers von der "Los Angeles Times" die komplizierte Gemengelage in "Born this way" auf den Punkt gebracht: "Gaga hat einen Weg gefunden, weibliche Selbstermächtigung ins Zentrum ihrer Vision zu stellen, ohne dabei die Vorteile zu verspielen, die sie als Daddy's girl oder Boy Toy erringen konnte." Dass die schlichte Melodie des Songs gefährlich nahe an der Madonna-Hymne "Express yourself" gebaut war, regte dann auch niemanden mehr besonders auf.

(c) Foley, EPA
"Paparazzi" - 98 Millionen Klicks auf YouTube
Vor der Neuerschaffung des Selbst als Muttermonster, das seine katholischen Traumata in gottähnlicher Willkür durch das Erschaffen einer neuen Rasse abarbeiten muss, stand der Ruhm und seine fatalen Konsequenzen. "Paparazzi" aus dem Jahr 2009 ist ein anderes Spiel, ein anderes Unglück, ein anderes Genre. Wiederum ein formatsprengendes Epos, dessen narrativer Gehalt in wenigen Worten wiedergegeben werden kann: Girl meets Boy, Boy hurts Girl, Girl kills Boy. Ein elegisch-pastoraler Beginn, eine weiß getünchte Villa auf den Klippen über dem Meer, Orchideen, Kristallluster, griechische Statuen. Man denkt an "Le Mépris" von Jean-Luc Godard.
Ein Liebespaar im zerwühlten Bett, Koks, Geldbündel. "Garage Glamorous", wie es im Liedtext heißt. Dann ein Streit, ein Sturz über die Brüstung und das hysterische Klicken der Paparazzi-Kameras. In den Schlagzeilen heißt es: "Lady Gaga hits Rock Bottom" und "Lady Gaga is over."
Aber natürlich kommt sie wieder: als bestgestylter Krüppel des Showbusiness in einem Rollstuhl des Designers Michael Schmidt, später mit Krücken von was weiß ich wem, die es ihr ermöglichen, eine Art vertically-challenged-dance-Routine zu exerzieren. Man denkt an den alten Merce Cunningham, wie er kurz vor seinem Tode fragil auf der Bühne saß und mit ein paar zarten Bewegungen die monumentalen Bewegungsarchitekturen aus seiner großen Zeit zu umreißen imstande war.
Ein blinder Fleck des Begehrens
Jetzt sind wir längst wieder im Banne des Gaga-Rhythmus, bei dem jeder mitmuss, einem moderaten Elektro-Synth-Groove. Die Beats kommandieren die Bilder, die Schnittrhythmen werden hektischer, die Leiche eines Dienstmädchens liegt in der Eingangshalle, Hitchcock lässt grüßen und irgendwo lauert immer ein Paparazzo, die Kamera schussbereit in der Armbeuge.
Schließlich biegt das Filmchen auf den Boulevard der Dämmerung ein: Das wiedervereinte Horrorpaar sitzt auf einer Couch: er, zeitunglesend, mit Augenklappe, sie im gelben Jumpsuit mit Minnie-Mouse-Ohren. Es ist die Zeit der Rache: ein rosafarbener Drink, den sie ihrem Geliebten reicht, Augenrollen, Hyperventilation, Unordnung und früher Tod.
Die Polizei rückt in Mannschaftsstärke an, um den Tatort zu sichern, die Namen zu ändern und die Unschuldigen zu schützen, aber Gaga steigt wie ein Phoenix aus der Asche. Die Paparazzi klicken und jubeln und in den Zeitungen hämmert es auf der Titelseite: "She's back!!! We love her again! She's innocent." Obwohl sie gerade zuvor verlautbart hat: "I killed my boyfriend." Aber Logik verlangt ja nun wirklich niemand. Wir sind ja nicht bei Agatha Christie.
Und viel wichtiger als ein konsequentes Plot-Development ist ein Insert im Abspann: Metallhalsband von Betony Vernon, Sonnenbrille von Hi Tek Alexander, Metallkorsettgürtel von Dolce & Gabbana, Kristallsandalen von Balmain, Diamantenarmband von Loree Rodkin, Schuhe von Giuseppe Zanotti. Und so weiter. Gaga-Videos sind immer auch ein Laufsteg, über den die hipsten Designer ihre extravagantesten Kreationen schicken können.
In einem Interview sagte Lady Gaga treuherzig: "'Paparazzi' hat eine starke, authentische Botschaft über die Prostitution, die mit dem Ruhm einhergeht, über den Tod und das Welken der Celebrity und was all dies jungen Menschen antut." Wenn das wirklich so wäre, dann hätte man das Video wohl unverzüglich in die Mülltonne getreten und der Welt wären die 98 Millionen Klicks auf YouTube erspart geblieben. Es gibt nämlich etwas Widerständiges in diesen Bilderkatarakten, etwas Nichtintegrierbares, einen blinden Fleck des Begehrens jenseits von Sinnproduktion und erzählerischer Konvention.
"Alejandro" - 189 Millionen Klicks auf YouTube
Musikalisch ist der Song wahrscheinlich der Tiefpunkt im bisherigen Oeuvre von Lady Gaga: eine romantische Latin-Ballade nach dem Erfolgsbauplan von ABBAs "Fernando" oder Madonnas "La isla bonita". Doch die visuelle Schicht widerspricht dem behaglichen Schunkeltrauma vehement: Keine Palmen, kein Sand, keine Drinks mit lustigen Schirmen. Stattdessen: Ein düsteres Winterszenario, in dem der Betrachter von Gestapoleuchten angestrahlt wird und schemenhaft paramilitärische Truppen erkennen kann, die mit martialischen Tanzschritten vorrücken.
Lady Gaga, die in den Lyrics die enttäuschte Liebhaberin gibt - "Don't call my name, Alejandro, I'm not your babe" - erscheint mal als Nonne im roten Lederhabit, die einen Rosenkranz verschlingt, dann im Profil mit Sonnenbrille wie eine Diktatorengattin, die ohne jede emotionale Regung ihr Territorium observiert.
Vergiss die Peitsche nicht!
Aus der Ferne wird ein Sarg herangezogen, auf einem Sessel zuckt ein rotes Bündel - ist es das herausgerissene Herz Jesu? -, in einem Saal voller Stahlrohrbetten begibt sich Gaga in die Gewalt von männlichen Muskelkörpern. Nur um dann nach dem Motto "Wenn du zum Manne gehst, vergiss die Peitsche nicht" selbst die Kontrolle über das Geschehen zu übernehmen.
Hier hat eine weitgehende Entkoppelung von Text, Klang und Bild stattgefunden, "La isla bonita" wird zu "La isla fea", einer hässlichen Insel der sinistren Gelüste, in der quasi nebenbei allerlei Blasphemisches ins Bild gesetzt wird, um die Hinterwäldler im Bible Belt zu schockieren. Doch diese Provokationsästhetik ist nur die oberste Schicht des Make-ups. Was zählt, das liegt dazwischen. In jenen Erkenntnisfalten, die vom Ornat der opulenten Inszenierung immer wieder zugedeckt werden und in kurzen Zwischenschnitten für Sekundenbruchteile Einblicke gewähren in ein polymorph-perverses Universum, das Bondage-, Fetisch- und Snuff-Signifier nur benutzt, um ein sprachloses Territorium jenseits der Lust und des Schmerzes zu evozieren.
Dort ist die immer wieder neu zu verhandelnde Essenz des Gagaismus zu verorten. In jenem Reich der Zeichen, die referenzlos um sich selbst kreisen, im endlosen Spiegelsaal von Metaphern und Symbolen, die in der Vervielfachung ihre poetische Kraft verlieren und wie welke Blätter zu Boden sinken. Message ist gut, Sinnvernichtung ist besser. Lady Gaga ist ganz bei sich, wenn sie nach der Show nachhause will und zur Garderobe geht, um ihren Mantel abzuholen. Sie schließt kurz die Augen, ein Schmetterling streichelt ihre Wange. Eine Stimme sagt: "Abre los ojos". Sie hebt die Lider und starrt nach vorne: Kein Mantel mehr und auch kein Zuhause.