Wahr falsch fiktiv
Faden und Fährten
Wo hört die Geschichtsschreibung auf und wo beginnt die Fiktion? Diese Frage stellt sich der italienische Historiker und Kulturwissenschaftler Carlo Ginzburg in seinem neuen Buch, der Essaysammlung "Faden und Fährten".
8. April 2017, 21:58
Der Autor ist bekannt dafür, kein Pauschaltourist der historischen Forschung zu sein. Die ausgetretenen Wege und gut erschlossenen Orte der Geschichtsschreibung lässt er unbeachtet. Ginzburg ist vielmehr ein Individualreisender. Nicht die Jahrhunderte umfassenden Chroniken, sondern die Kultur und Lebensgeschichte der "einfachen Menschen" oder unentdeckte Details in den Biografien historischer Persönlichkeiten haben es dem Wissenschaftler angetan. In den Texten seines neuesten Buches lässt Ginzburg sein Forscherleben Revue passieren.
Das Labyrinth der Wirklichkeit
In der griechischen Mythologie findet sich die Geschichte von Ariadne und Theseus. Der Athener Königssohn Theseus machte sich auf den Weg nach Kreta, um den Minotaurus, ein blutrünstiges Mischwesen - halb Mensch, halb Stier - zu töten. Er wollte damit den grausamen Menschenopfern ein Ende machen, die Minos, der König Kretas, alle neun Jahre von den Athenern verlangt hatte. Die Tochter des Königs, Ariadne, verliebte sich in Theseus. Sie schenkte ihm einen langen Wollfaden, mit dem er sich im Labyrinth des Minotaurus orientieren und das Ungeheuer töten konnte. Von den Fährten, die Theseus im Labyrinth hinterließ, als er dort umherlief, erzählt der Mythos nichts.
Solchen Fährten gehört Carlo Ginzburgs Aufmerksamkeit als Historiker. In "Faden und Fährten" hat der italienische Geschichtsforscher sieben Aufsätze versammelt, die eine zentrale Frage verbindet: Wie lassen sich wahre Geschichten erzählen, in dem man Spuren und Fährten verfolgt?
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Es ist dieses Verhältnis zwischen dem Faden - dem Erzählfaden, der uns dabei hilft, uns im Labyrinth der Wirklichkeit zurechtzufinden - und den Fährten, das die ganz unterschiedlich gewidmeten Kapitel in diesem Buch zusammenhält. Ich arbeite schon eine ganze Weile als Historiker: Ausgehend von Spuren versuche ich, wahre Geschichten zu erzählen (die zuweilen das Falsche zum Thema haben).
Die Essays sind zum überwiegenden Teil bereits veröffentlicht worden, wurden für dieses Buch jedoch neu geschrieben und erweitert. Thematisch führen sie vom französischen Philosophen und Politiker Montaigne, über den Schriftsteller Stendhal bis hin zu wissenschaftstheoretischen Analysen der Geschichtsforschung selbst. Der Untertitel des Buches "wahr, falsch, fiktiv" ist dabei der rote Faden, der sich durch sämtliche Aufsätze zieht.
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Die Historiker, schrieb Aristoteles, sprechen von dem, was gewesen ist (der wahren, realen Welt), die Dichter davon, was gewesen sein könnte (dem Möglichen). Aber die Wahrheit ist natürlich ein Ziel- und kein Ausgangspunkt. Das Handwerk der Historiker (und, in einer anderen Form, das der Dichter) handelt von etwas, das Teil unser aller Leben ist: Das Geflecht von Wahr, Falsch und Fiktiv zu entwirren, das das Webmuster unseres In-der-Welt-Seins bildet.
Keine leichte Lektüre
Ein weiterer roter Faden, der sich in Carlo Ginzburgs Essaysammlung findet, ist die Wissenschaftstheorie. Sie spielt die eigentliche Hauptrolle in diesem Buch und sorgt dafür, dass es sich bei "Faden und Fährten" mit Sicherheit nicht um leichte Lektüre handelt. Geschichtsinteressierte kommen nur am Rande auf ihre Kosten. Historische Episoden dienen meist nur als Einleitung oder Bebilderung von theoretischen Fragen der historischen Forschungspraxis.
So auch im Kapitel "Unus testis - Nur ein Zeuge", in dem der Autor die Frage stellt, ob ein einziger Zeuge reicht, um ein historisches Geschehen zu beglaubigen. Im Mai des Jahres 1348 wurde die jüdische Gemeinde von La Baume, einem kleinen Dorf in der Provence, ausgelöscht. Große Teile der Bevölkerung machten die Juden für den Ausbruch der Schwarzen Pest in Südfrankreich verantwortlich.
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Das Ghetto wurde gestürmt, Männer, Frauen und Kinder ermordet. (...) In La Baume gab es einen einzigen Überlebenden: Einen Mann, der zehn Tage zuvor nach Avignon aufgebrochen war, wohin er dem Ruf von Königin Johanna gefolgt war. Er hat ein bewegendes Andenken an das Ereignis hinterlassen, wenige Zeilen auf einem Exemplar der Thora, das heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt wird.
Im Sinn der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft ist "ein Zeuge kein Zeuge". Ein zweiter Bericht oder ein zusätzliches Dokument wären nötig, um diese Geschehnisse als historisches Faktum anerkennen zu können. Damit zeigt Ginzburg, dass sich juristische Prinzipien nicht gewaltsam auf die Wissenschaft anwenden lassen, nur um die Fiktion deutlich von der Historie abzugrenzen.
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Geschichte nährt die Fiktion, die ihrerseits zum Gegenstand historischer Überlegung wird oder aber zum fiktiven Stoff, und so weiter. Diese nicht vorhersehbare Verflechtung kann sich zu einem Knoten (...) verdichten.
Liebstes Thema Hexenverfolgung
Ginzburg liegt nichts daran, diesen Knoten zu zerschneiden. Er versucht ihn vielmehr Stück für Stück zu entwirren. Ausgehend von kleinen Details erschließt er große geschichtliche Zusammenhänge. Auf diesem Gebiet der Geschichtsforschung gilt er als Pionier und als Mitbegründer der sogenannten Mikrohistorie.
In seinem bekannten Buch "Der Käse und die Würmer" schildert er etwa die Geschichte eines Müllers im Italien des 16. Jahrhunderts. Er rekonstruiert darin die Biografie, das soziale Umfeld und das Weltbild eines bis dahin vollkommen unbekannten Menschen, des Müllers Menocchio, der 1599 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Die Inquisition, die Hexen und Schamanen Europas, gehören zu den wichtigsten Forschungsgebieten Carlo Ginzburgs. Ihnen ist auch das letzte Kapitel in "Faden und Fährten" gewidmet. Wobei der Autor hier weniger historisches Wissen zusammenträgt, er analysiert vielmehr seinen Zugang zu diesem Thema. Ein Freund machte Ginzburg vor einigen Jahren darauf aufmerksam, dass die Wahl, sich mit Opfern der Hexenverfolgung zu beschäftigen, bei einem Juden, der selbst der Verfolgung ausgesetzt war, nicht verwunderlich sei.
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Diese schlichte Feststellung machte mich erst einmal sprachlos. Wie hatte mir ein derart offensichtlicher Sachverhalt entgehen können? Und trotzdem haben mich die Parallelen zwischen Jude und Hexe und die daraus resultierende Möglichkeit, dass ich mich mit dem Gegenstand meiner Forschung identifiziert haben könnte, nicht einmal gestreift. Heute neige ich dazu, in alledem einen Verdrängungseffekt auszumachen. Das Offensichtliche, das zugleich verborgen ist, ist etwas, wie Freud uns gelehrt hat, das man nicht sehen will.
Der heute 74-jährige Historiker Carlo Ginzburg gibt auf rund 150 Seiten Einblick in seine Forschungsarbeit, seine thematischen Zugänge und sein Verhältnis zu Wahrheit und Fiktion in der Geschichtsschreibung. Leser, die sich von diesem Band historische Neuentdeckungen erwarten, werden womöglich enttäuscht sein. Fans von Ginzburg werden an dieser Lehreinheit in historischer Detektivarbeit sicher ihre Freude haben.
Service
Carlo Ginzburg, "Faden und Fährten. Wahr falsch fiktiv", aus dem Italienischen von Victoria Lorini, Wagenbach Verlag