Kolumne von Klaus Nüchtern
Warum ich die "Society for staying at home" gründen wollte
Es war der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal, der alles Unglück des Menschen auf dessen Unfähigkeit zurückführte, in seinen eigenen vier Wänden auf seinen vier Buchstaben sitzen zu bleiben.
8. April 2017, 21:58
Und obwohl Pascal im 17. Jahrhundert den Einfluss und das pazifizierende Potenzial von Internet-Pornografie und Mikrowellen-Popcorn, also den beiden Säulen, auf denen so viele geglückte Abende im trauten Heim ruhen, noch nicht zu antizipieren vermochte, ist natürlich was dran an seinem Bonmot. Würden alle daheim bleiben, gäbe es keine Grippeepidemien, keine Diskurspopkonzerte und keine Weltkriege - alles Dinge, auf die man zur Not auch verzichten könnte. Stattdessen würde die Menschheit relativ friedlich und relativ rasch an ihr Ende gelangen; Die meisten blieben ohnedies ungezeugt, die anderen würden es - geschädigt durch Inzucht und ausgezehrt durch exzessive Masturbation - auch nicht lange packen.
Im Grunde genommen bin ich ein geselliges Kerlchen, das an Angehörigen der eigenen Gattung durchaus seine Freude haben kann, bloß, dass ich es mir aussuchen können möchte, mit welchen. Soweit das eben geht. Ich bin kein Soziopath und kein Control-Freak, also jedenfalls kein völlig sozial unverträglicher Soziopath oder Control-Freak, und weiß, dass man das nicht immer in der Hand hat. Das ist auch gut so, andernfalls man ja auch keine neue Menschen kennenlernen und die Frau heiraten würde, mit der gemeinsam man seinerzeit im Kindergarten beim gemischtgeschlechtlichen Sackhüpfen im selben Sack gesteckt hat und im Achtelfinale ausgeschieden ist. Aber man muss jetzt auch nicht ständig unter Leute gehen. Leute, die man nie kennengelernt hat, können einen auch nicht zu einem "Spielabend" oder in den Swinger-Club einladen - ein Vorteil, der kaum überschätzt werden kann.
Bert Brecht hat die eingangs zitierte Pascal'sche Einsicht in ihrer sauertöpfisch-spießigen Variante dem Ehepaar Peachum in den Mund gelegt. Mit der legendären "Dreigroschenoper"-Einspielung, in der Willy Trenk-Trebitsch und Trude Hesterberg den "Anstatt-dass-Song" singen, bin ich aufgewachsen. "Anstatt dass", heißt es in dem, "anstatt dass Sie zuhause bleiben und im warmen Bett. Brauchen sie Spaß, brauchen sie Spaß, grad als ob man ihnen eine Extrawurst gebraten hätt!"
Natürlich wollte ich - wie jeder andere auch - genau das: eine Extrawurst gebraten kriegen. Aber die grandiose Musik von Kurt Weill war so suggestiv, dass mir ein immerwährend nagender Zweifel eingepflanzt wurde, ob ich denn zum Bezug gebratener Extrawürste tatsächlich berechtigt sei.
Tatsächlich habe ich mich auf einen spießigen Kompromiss eingelassen. Wer nicht immer zuhause bleiben mag - und sei das Bett noch so warm -, aber auch nicht selbstherrlich auf Bespaßung pochen will, der kann ja seinerseits anderen Menschen einen Spaß ausrichten - um im Schatten solch altruistisch camouflierten Hedonismus seinerseits spaßparzipativ unterwegs zu sein. Zeitlebens bin ich ein ganz guter Einlader, aber kein großer Ausgeher gewesen. Das heißt: Ich bin zwar außer Haus gegangen, aber ich bin nicht ausgegangen. Das Konzept Ausgehen habe ich nie so recht verstanden. Man kann einen Tanzkurs besuchen, ins Theater oder ins Kino gehen und hernach beim Wirten den Konsum zahlreicher Getränke durch eine gepflegte Konversation legitimieren, aber bloß ausgehen - was soll das sein?!
Ausgeher, das sind doch genau die Nervensägen, die depressiv auf den Partys anderer Leute rumhängen und sich ständig drüber beschweren, dass die Stimmung mies ist. Das sind Menschen, die nur nehmen wollen und nicht geben können. Allerdings hatten die Ausgeher die bessere PR, die bessere Lobby, den besseren Style. Die Ausgeher hatten weiße Anzüge, weißes Pulver und später auch noch Rainald Goetz; die Daheimbleiber hatten ausgeleierte Trainingsanzüge, Knabber-Mix und unfrischen Atem.
Bis mir vor einigen Jahr ein Interview von Julianne Moore in die Hände fiel. Darin verriet die Schauspielerin, dass sie nicht sonderlich gerne ausgehe. Julianne Moore zählt, was Coolness Crediblity anbelangt, fraglos zur Upper-Class. Wenn Julianne Moore zu ihrem um zehn Jahre jüngeren und um 30 Zentimeter größeren Gatten, dem Regisseur Bart Freundlich, der ihr zwei Kinder gemacht hat, sagt: "Ich pfeif auf die Vernissage in der angesagten Eastside-Galerie, ich möchte heute lieber zuhause bleiben, Schoko-Fondue essen und ein paar Folgen aus der vierten Staffel von '30 Rock' schauen, in denen ich nicht mitspiele", dann wird das auch so gemacht.
Durch ihr Vorbild ermutigt, hab ich vor fünf Jahren die Ess Ess Äitsch gegründet: The Society for Staying at Home. Ich habe Julianne Moore den Ehrenvorsitz angeboten. Sie hat mir nie geantwortet. Vermutlich hat sie meine E-Mail nie gekriegt, weil ihr persönlicher E-Mail-Account-Checker die gelöscht hat, bevor sie diese überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Sehr geehrte Frau Moore, falls sie zufällig das hier lesen: Mein Angebot steht noch. Und falls es mit Mister Freundlich derzeit nicht toll laufen sollte - auch ich kann gerne mit ihnen zuhause bleiben. Wir könnten uns Extrawürste braten.