Ukraine: Was Russland fürchtet
Leonid Petrowitsch Reschetnikow, ein hochrangiger ehemaliger sowjetischer Spion, glaubt nicht daran, dass Russland die ukrainische Präsidentenwahl anerkennen wird. Reschetnikow sieht in einer Föderalisierung der Ukraine die einzige Lösung für die Krise. Und er macht deutlich, dass Moskau vor allem zweierlei fürchtet: eine Überflutung mit EU-Waren und die Bedrohung mit US-Raketen aus der Ukraine.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 2.5.2014
Vom Spion zum Wissenschaftler
Der 1947 als Sohn eines sowjetischen Offiziers in Potsdam geborene Leonid Petrowitsch Reschetnikow wurde im April 2009 vom damaligen Präsidenten Medwedew zum Direktor des Instituts für strategische Studien in Moskau ernannt.
"Sanktionen bringen nichts"
Der kulturell russisch geprägte Osten wolle nicht von Kiew dominiert werden, und die Mehrheit der Bevölkerung werde dort die Präsidentenwahl boykottieren, die Russland wahrscheinlich nicht anerkennen werde, so Reschetnikow. Dass Moskau die Abspaltung der Ostukraine betreibt, bestreitet der Reschetnikow ebenso wie die Möglichkeit, dass die Sanktionen des Westens Moskau zu einer Änderung seiner Ukraine-Politik veranlassen könnte. Leonid Reschetnikow: "Wir wissen, dass Europa diese Sanktionen nicht sehr will, dass Europa sehr bemüht ist, selektiv vorzugehen. Doch es gibt einem enormen Druck durch Präsident Obama und die USA. Die europäischen Sanktionen werden uns nicht ernsthaft schaden. Aber sie erschweren die wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Russland und Europa brauchen. Bei den USA ist das etwas anderes; sie wollen die Welt beherrschen, mit ihnen ist das komplizierter. Doch diese Sanktionen braucht niemand, und sie bringen auch niemandem etwas."
Angst vor EU-Importen
Klar macht Reschetnikow, dass Russland weiterhin die EU-Annäherung der Ukraine ablehnt: "Das ist eine enorme Bedrohung unserer Wirtschaft. Unser Präsident hat mehrfach erklärt, dass unsere Grenze für einen enormen Warenstrom aus der EU geöffnet würden, sollte die Ukraine auch den wirtschaftlichen Teil dieses Assoziierungsabkommen unterschreiben. Diese Waren würden unsere Wirtschaft unterminieren."
Ukraine "künstlich geschaffen"
Doch die Bedeutung der Ukraine für Russland geht weit über wirtschaftliche Interessen hinaus. Vielmehr wird die Unabhängigkeit der Ukraine als Resultat des Zerfalls der Sowjetunion offensichtlich als Betriebsunfall der russischen Geschichte empfunden. Reschetnikow: "Der größere Teil der Ukraine ist ein untrennbarer Teil der russischen Welt, und zwar nicht nur historisch, obwohl wir eine absolut gemeinsame Geschichte haben. Europa und die USA sprechen immer über die Verbrechen des Kommunismus; ich stimme zu, dass das ein verbrecherisches Regime war. Doch dank Lenin und Stalin entstand die Ukraine, die es bis dahin nicht gab. Warum verurteilt der Westen das Regime, nicht aber auch die von ihm künstlich geschaffene Ukraine, wobei russisches Land abgeschnitten wurde wie Lugansk, Donezk, Odessa und die Krim. Warum meint der Westen, dass die administrativen Grenzen der Sowjetunion in Staatsgrenzen verwandelt werden können?" Dass Russland diese Grenzen anerkannt hat, zählt offenbar nicht mehr.
Angst vor US-Raketen
Darüber hinaus geht es aus der Sicht Moskaus darum zu verhindern, dass die Ukraine im Kampf um geopolitische Einflusssphären gegen Moskau genutzt werden kann. Leonid Reschetnikow: "In Wirklichkeit interessiert die USA die Ukraine nicht, sondern sie ist ein Instrument im geopolitischen Kampf mit Russland; das ist ein Schlag gegen Russland. Von Charkow bis Moskau sind es 700 Kilometer; wenn in Charkow amerikanische Raketen stehen sollten, dann wären sie so schnell, dass wir unsere nicht einmal starten könnten.“ Den Einwand, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine völlig unrealistisch sei, lässt der ehemalige Generalleutnant der sowjetischen Auslandsaufklärung nicht gelten.