Neuer Nationalismus in Russland

Die Militärparade in Moskau gestern zur Feier des Sieges Russlands im Zweiten Weltkrieg hat Präsident Wladimir Putin zur Demonstration der Macht genutzt. Da war der anschließende Besuch auf der Krim, die Putin aus Moskauer Sicht wieder heim ins Reich geholt hat, nur logisch. Die Menschen jubeln ihm wieder zu, vergessen scheinen die Proteste gegen ihn vor zwei Jahren. Der Soziologe und Meinungsforscher Lev Gudkov über das neue Nationalbewusstsein der Russen.

Mittagsjournal, 10.5.2014

Aus Moskau,

Noch größer als in den vergangenen Jahren war gestern in Moskau die Militärparade auf dem Roten Platz. Und nicht nur in Moskau, auch auf der frisch annektierten Krim, die Präsident Putin ja gestern zum ersten Mal besucht hat, veranstaltete die Armee eine beeindruckende Flugshow. Stärke und militärische Schlagkraft zur Schau zu stellen, das kommt offenbar an. Die Zuseher bei den Paraden sprechen von einem neuen Geist des Stolzes und Patriotismus, der das Land erfasst hat.

Russland ist wenige Monate nach dem Beginn des Tauziehens um die Ukraine kaum wiederzuerkennen: Vergessen scheinen die Proteste gegen Präsident Putin vor zwei Jahren - praktisch geschlossen steht Russland nun hinter seiner politischen Führung. Der Soziologe und Meinungsforscher Lev Gudkov über das neue Nationalbewusstsein der Russen.

Weg geht Richtung Diktatur

Vor wenigen Monaten, als die Proteste in der Ukraine gerade begannen, war die Sympathie in Russland für die Demonstranten in Kiew noch groß, sagt Lev Gudkov, Soziologe und Leiter des Lewada-Zentrums, des letzten größeren noch unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland. Denn dass Menschen gegen ein korruptes Regime auf die Straße gehen, das nur in die eigene Tasche wirtschaftet, das war jedem Russen verständlich, so Gudkov. Doch die politische Führung in Russland begriff sofort, wie gefährlich ihr solche Sympathien für die Demonstranten in Kiew werden konnten, und startete ihre Gegenstrategie:

Eine derartige Propaganda, so intensiv, so aggressiv, so verlogen hat es nicht nur in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben, an so etwas erinnere ich mich nicht einmal aus den Zeiten der Sowjetunion.

Die staatlichen Medien verbreiten die dem Kreml genehme Interpretation der Ereignisse in der Ukraine rund um die Uhr, die letzten größeren unabhängigen Fernsehkanäle und Internet-Portale werden geschlossen oder unter Kontrolle gebracht - und die Strategie geht auf, sagt Lew Gudkow. Aus Schwarz hat die Propagandamaschinerie Weiß gemacht. Die Demonstranten vom Maidan, das sind jetzt vom Westen bezahlte Marionetten. Die Übergangsregierung in Kiew: eine Bande von Faschisten, die Russen in der Ukraine bedroht. Und daher wird die Annexion der Krim in Russland auch nicht als Aggression gesehen:

Die Russen wollen nicht eingestehen, dass sie in diesem Konflikt die Angreifer sind, sagt der Soziologe, sie sehen sich als Verteidiger - die Angreifer, das sind die anderen. Dass die Propaganda aber so effektiv war, sagt Gudkow, liege unter anderem daran, dass sie in Russland tief verwurzelte Überzeugungen ausgenützt hat.

All diese Stereotypen gibt es weiter, dass Russland eine von Widersachern belagerte Festung ist, dass der Westen uns feindlich gesonnen ist, da hat sich seit den Zeiten der Sowjetunion nichts verändert, so Gudkov. Und auch, dass Moskau die Regierung in Kiew als Faschisten bezeichnet, ist natürlich ein ganz bewusst gesetzter Schritt:

Der Krieg und der Sieg über den Faschismus im 2. Weltkrieg sind etwas, worauf die öffentliche Meinung sehr sensibel reagiert, weil es gibt in Russland keine anderen Symbole des Nationalstolzes als den Sieg über den Faschismus.

Aber die Sowjetunion, die ist doch seit mehr als 20 Jahren Vergangenheit - haben sich die Einstellungen der Menschen denn nicht verändert? Leider viel weniger, als wir zu Anfang gehofft haben, meint Soziologe Gudkov. Veränderungen gibt es nur an der Oberfläche, das System der autoritären Machtausübung sei aber dasselbe geblieben und die Schulen erziehen die jungen Menschen weiter im Geiste der sowjetischen Kultur:

Das ist vor allem eine Kultur der Anpassung an einen repressiven Staat. Es gibt diesen Kult, die Staatsmacht als Beschützer imperialer Ideen zu sehen. Im Alltagsleben aber muss man lernen, auszukommen mit diesem repressiven System, und das führt natürlich zu Amoralismus, Zynismus und Opportunismus.

Eine Gesellschaft, die wie Gudkov meint, zur Massenpsychose neigt. Von patriotischer Euphorie sei Russland nun erfasst. Euphorie, so der Soziologe, sei aber eine Stimmung, die man nur über wenige Monate aufrechterhalten könne. Und dann - wird dann die Gesellschaft wieder von Zweifeln an ihrer Führung erfasst werden? Ja, sagt Gudkow, aber die Führung hat ja in den letzten Wochen mit noch schärferen Gesetzen gegen Kritiker bereits vorgesorgt:

Wir bewegen uns in Richtung einer Diktatur - so die Prognose des Soziologen Gudkow.