Das Geheimnis der Mode

Angezogen

Sie war eine Königin - und Modekönigin: Marie Antoinette. Die Tochter von Kaiser Franz I. und Maria Theresia, seit 1770 mit dem späteren König Ludwig XVI. verheiratet, wurde schon als junges Mädchen mit immensem finanziellem Aufwand in eine lebendige Modepuppe verwandelt.

Später fand sie Gefallen daran, mit gängigen Konventionen und höfischer Kleiderordnung zu brechen. Statt barockem Seidenbrokat und Rokokotaft liebte sie weißen Baumwollmusselin, kombiniert mit Rousseau-Häubchen oder Strohhut, gefiel sich mit bizarren Frisuren, legte das Korsett ab und trug Unterwäsche als Oberkleid.

Sie zeigte sich betont weiblich - und verführerisch. Ihr Porträt in gerüschtem, dekolletiertem Kleid provozierte einen solchen Skandal, dass es aus der Ausstellung im Louvre entfernt werden musste. Man hat Marie Antoinettes Modevorlieben als Klassentravestie und Demütigung des dritten Standes interpretiert, ihre Kleidung nicht als die einer Königin empfunden, sondern die einer Mätresse.

Marie Antoinette, die Modekönigin

Als am 4. Mai 1789 - vor dem Sturm auf die Bastille - der König sich angesichts der kritischen wirtschaftlichen und politischen Lage gezwungen sah, die Generalstände einzuberufen, demonstrierte sie erneut Selbstbewusstsein - und provozierte. Denn ausgerechnet jetzt, kurz vor ihrem eigenen Untergang und dem des Ancien Régime, inszenierte sie sich als Monarchin mit majestätischem Pomp. Sie zog ein Kleid aus silbernem Seidenbrokat an, steckte einen 55-karätigen Diamanten ins Haar - und präsentierte sich noch einmal als Vertreterin jener Ordnung, die gerade abgeschafft wurde: der Monarchie. Wieder ein Affront.

Marie Antoinette, die Modekönigin, die "die Anziehung ihres Geschlechts über den Glanz ihres Standes" stellte, bahnte Marie Antoinette, der französischen Königin, den Weg zum Schafott, schreibt Barbara Vinken in "Angezogen", ihrem Buch über das "Geheimnis der Mode", das die Französische Revolution als Umbruch auch in Modesachen begreift: mit ihr wurde "die Mode modern, alles Moderne Mode".

"Vor der Französischen Revolution hat die Mode die Stände geteilt: den Adel, den Klerus, den dritten Stand und die Bauern", sagt Barbara Vinken. "Insofern machten vor der Französischen Revolution Kleider wirklich Leute. Sie konnten sich anziehen wie ein Adeliger - wenn Sie sich dann auch so bewegen konnten, hatten Sie eine Chance, dass es durchgeht. Nach der Französischen Revolution trennt die Mode streng nicht mehr die Klassen, sondern sie trennt streng die Geschlechter: Männer und Frauen. Dieser Umbruch in der Struktur, das ist das, was ich versucht habe mit dem Datum der Französischen Revolution zu markieren."

Spiel nach Regeln

Der Wandel der Mode ist keine Laune der Kultur, sagt die Autorin, er ist ein Wandel mit System, ein Spiel nach Regeln, auch wenn uns diese, wenn wir uns modisch kleiden, meist nicht bewusst sind. Für die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken, die seit zwanzig Jahren immer wieder auch über Mode schreibt, ist diese nichts Flüchtiges, Oberflächliches, nur Äußerliches, sie ist ein Zeichensystem. Textilien, glaubt sie, seien genauso lesbar wie Texte:

"Das ist vielleicht eine der Entwicklungen, wo wir noch ganz am Anfang stehen. Dass nämlich interessante Kleider wirklich die gleiche Vielschichtigkeit haben wie etwa ein Gedicht. Das heißt, das zitiert aus verschiedenen Zeitstufen, das kann die Geschichte der Mode selbst zitieren und dabei umschreiben. Und kann deswegen auch interpretiert werden wie ein Text auch textimmanent interpretiert werden kann. Das heißt nicht, dass Texte und Textilien keine soziale Dimension haben, die haben sie natürlich ganz stark. Aber das heißt, dass man trotzdem erst einmal die ästhetische Logik des Kleides begreifen muss. Und das ist eigentlich, was mich in meinen Überlegungen über Mode am meisten interessiert hat und was mich auch am meisten angetrieben hat."

Was Männer verhüllen und Frauen zeigen

Manhattan, Washington Square: Der modeinteressierten Betrachterin fallen unter den Passanten die immer gleichen Modetypen auf: Bei den Männern sind es der klassisch-elegante - mit Anzug, kurzem Mantel oder Blazer mit Flanellhose, neben dem eher sportlich-legeren mit Jeans oder Cordhosen mit Blouson. Bei der Silhouette der Frauen dagegen geht es immer nur um eines: die Betonung der Beine. Beine in Leggings oder engen Hosen, Beine mit Strümpfen in Shorts, Beine in sehr kurzen Röcken.

Dass die Frauen das zeigen und als körperlichen Reiz ausstellen, was die Männer verhüllen, war nicht immer so. Vor der Französischen Revolution war das Männerbein die Attraktion, Beine, Po und Geschlecht wurden geradezu ostentativ zur Schau gestellt, das Frauenbein dagegen war tabu. "Die Männer waren das schöne Geschlecht", schreibt Vinken. Kaiser Karl V. zeigte Bein in feingestrickten Strümpfen mit Stickereien und wusste sein Glied durch eine sogenannte "Schamkapsel" eindrucksvoll zur Geltung zu bringen. Auch Ludwig des XIV. stolze Männlichkeit kulminierte in einem durch glänzende Seidenstrümpfe betonten Beinkult.

"Ich habe versucht am Bein zu zeigen, dass das Bein die klassische erotische Zone der Männer war, Hüfte, Bein und Po. Und dass diese Zone in die Frauenmode übertragen worden ist."

Zur-Schau-Stellung körperlicher Reize

Nach der Französischen Revolution, nach dem Zusammenbruch der höfisch-feudalen Welt hören auch die Männer auf, ihre Potenz selbstverliebt zu inszenieren - und damit auch, sich für Mode zu interessieren. Der bürgerliche Mann trägt Anzug, der Anzug steht für Seriosität und Funktionalität - die korrekte Berufsuniform. Das Zur-Schau-Stellen körperlicher Reize wird nun Sache der Frauen, die Mode wird weiblich, während die männliche Mode amodisch wird und stagniert.

"Während der Männerkörper in der Mode der Moderne seine Geschlechtlichkeit unmarkiert lässt, geht es in der weiblichen Mode ausschließlich um die Markierung von Geschlechtlichkeit", so die Autorin - das gilt auch dann, wenn Frauen Anzug tragen: "Die Frauen haben eine sehr viel größere Wahl, sie tragen allerdings auch das Stigma des Oberflächlichen. (...) Das ist ganz komplex, sich als Frau anzuziehen und trotzdem diesen Anspruch auf Kompetenz, Autorität usw. nicht aufzugeben. Man kann sagen, ja, sie haben es einfacher, sie haben eine sehr viel größere Wahlfreiheit. Sie kaufen sich dafür aber mit dem Stigma des Modischen die Ausgrenzungen aus ernstzunehmenden Missionen ein."

Enteignung und Aneignung

Mit einer Geschichte, die, so die Autorin, "im wahrsten Sinne des Wortes am Nabel der Mode" spielt, endet das Buch - mit der Geschichte von Omphale und Herakles. Die Lyderkönigin und ihr ehemaliger Lustsklave ließen sich einst in einer Grotte nieder, um ihre Kleider zu tauschen. In ihr purpurnes Seidengewand zwängte sich nun Herakles, Omphale dagegen hatte weniger Umstände mit Löwenfell und Keule. Herakles mit Omphale verwechselnd, legte sich in der Nacht Pan zu dem Mann. Nachdem er den Irrtum bemerkt hatte, streute der erboste Pan das Gerücht vom weibischen Transvestiten Herakles in die Welt. Kleidermode kann täuschen, befreien und einengen. Sie hat immer auch mit Lust und Macht zu tun, mit Verführung, Identität und Rollenspiel.

"Der Witz der Mode und ihre Attraktion, ihre Anziehung, liegt darin, dass es immer Enteignung und Aneignung ist", sagt Barbara Vinken. "Das heißt, man drückt sein Selbst nicht in der Mode aus, sondern man entwendet vom anderen etwas, man widmet das um, man schreibt es um, man besetzt es um. Das ist genau das Raffinierte oder das Umwegige, ja, das Erotische kann man fast sagen an der Mode."

Barbara Vinken rekapituliert nicht die Geschichte der Mode in all ihren Stilentwicklungen. Wer einen lückenlosen, leicht lesbaren Überblick über die Mode von der Antike bis zur Gegenwart erwartet, wird enttäuscht. Das essayistisch konzipierte Buch analysiert vielmehr einzelne Aspekte eines kaum einzugrenzenden Themas - immer vor dem Hintergrund der Gender-Thematik.

"Die unwiderstehliche Faszination der Mode verdankt sich dem Durchbrechen der Gender-Normen", gibt sich die Münchner Philologin und bekennende Modeliebhaberin überzeugt, die über Unisex und Crossdressing räsoniert, über Dandys, Hipsters und Sapeurs, über Coco Chanel und die "Mad Men"-Filme, über die perfekte Eleganz der Obamas, aber auch über die Männerröcke und Polokleider eines Yamamoto oder Marc Jacobs. Sie zitiert Hegel, Kleist und Baudelaire, setzt sich mit den Modethesen und -theorien eines Adolf Loos, Georg Simmel oder John Carl Flügel auseinander und beschäftigt sich intensiv mit der extravaganten Laufstegmode eines Rei Kawakubo, Martin Margiela oder Alexander McQueen.

Mehr als eine schöne Nebensache

Ein ungewöhnliches und ungewöhnlich kluges Buch, das, wenn es auch manche Wiederholung liefert, sich durch überraschende Einsichten, pointierte Zuspitzungen und ironische Kommentare auszeichnet über die Mode, die mehr ist als eine schöne Nebensache.

"Wenn man Mode sagt, dann meint man damit ein System", so Barbara Vinken. "Das ist auch eigentlich das, was ich dieses Mal hauptsächlich im Blick hatte. Natürlich ist das ein vielfältiges System, ein ausgefeiltes System, aber es ist nicht so, wie man heute manchmal glaubt, dass alles geht. Wenn Sie in zwanzig Jahren noch mal auf unsere Zeit gucken, dann werden Sie sehen: Man kann sofort erkennen, welche Zeit das war. Es ist nicht so, dass alles geht. Sondern im Prinzip gibt es durchaus einen Zeitstil. Es gibt durchaus so etwas wie Mode."

Dass in einer Welt, in der die Frauen die gleichen Chancen haben wie die Männer, die Mode keine Zukunft habe, weil in einer solchen Welt die Demonstration der körperlichen Reize längst obsolet geworden sein wird, hält Vinken für eine ebenso triste wie falsche Prognose. Für sie ist und bleibt die Mode ein raffiniertes, durchaus lustvolles Spiel, ein "eigenartiger, manchmal als bedrohlich empfundener, manchmal heiß geliebter, meistens belächelter Fremdkörper im Herzen der Moderne".

"Mode gibt dem Leben eine schöne Form, und sie hilft einem, der Formlosigkeit des Lebens mit Eleganz zu begegnen", meint Barbara Vinken. "Ich empfinde das als eine Möglichkeit des Spiels und als ein Mehr an Gefallen, ein Mehr an Genuss, ein Mehr an Zivilisation, ein Mehr an Schönheit." Und so ist dieses Buch - bei allen gelehrten Exkursen und Reflexionen - auch eine Liebeserklärung an die Mode, die Modedesigner und Modeliebhaber, die Trendsetter und Fashion-Victims - wie Marie Antoinette, die guillotinierte Modekönigin, bis in unsere Tage eine Ikone der Stardesigner.

Service

Barbara Vinken, "Angezogen. Das Geheimnis der Mode", Verlag Klett-Cotta