Von Herbert Kapfer
Die Veröffentlichungsgeschichte
Bei Herbert Reichner in Wien erschien im Oktober 1935 die 560 Seiten umfassende Erstausgabe des Romans "Die Blendung" mit einer Einbandzeichnung von Alfred Kubin. Das erzählerische Hauptwerk des zu diesem Zeitpunkt 30-jährigen Autors blieb anfangs fast unbeachtet, obwohl Hermann Broch, Thomas Mann und Hermann Hesse dessen Bedeutung wahrnahmen und Kritiker das Werk in einen Zusammenhang mit Kafka und Joyce stellten.
27. April 2017, 15:40
Die zweite deutsche Ausgabe veröffentlichte 1948 der Verlag von Willi Weismann in München. "Abgeblendet ist in diesem Roman Elias Canettis die Welt als jener gemeinsame Daseinsraum, wie er der Übereinkunft der "Normalen" entspricht. Die fundamentalen Erschütterungen des abendländischen Weltempfindens haben die Fabel des einen und identischen Daseinsraumes, in dem die Menschen handelnd und redend sich wahrhaft begegnen können, endgültig zerstört", konstatierte der Schriftsteller und Kritiker Rudolf Hartung zu dieser Neuausgabe des Romans.
Rudolf Hartung
Welchen Aspekt aber hat das Leben in einer solchermaßen atomisierten Welt gewonnen? Die eigenartig gesteigerte Prägnanz der Gestalten Canettis muss durchaus als Antwort auf diese Frage begriffen werden. Entscheidend ist die Einsicht, dass Prägnanz der Gestalt hier etwas grundsätzlich anderes bedeutet als volle Entfaltung der Persönlichkeit etwa im Sinne Goethes. Die Gestalten sind scharf konturiert, prägnant, nicht weil sie voll entwickelte Individualitäten wären, sondern weil mit dem Untergang der einen Welt zugleich auch das Maß verschwunden ist, weil in einer atomisierten Welt notwendigerweise die Maßlosigkeit herrscht.
1946 wurde Canettis Roman mit Veronica Wedgwoods englischer Übersetzung "Auto da Fé" in Großbritannien berühmt. Sie erschien ein Jahr später unter dem Titel "The Tower of Babel" im Verlag von Alfred A. Knopf in New York. Doch die erwähnte erste deutsche Nachkriegsausgabe von 1948 scheiterte - wie der Canetti-Biograf Sven Hanuschek anmerkte - "an der Majorität der Literaturkritik wie an der Währungsreform, der Münchner Weismann Verlag überlebte sie nicht."
Im September 1963 erschien die dritte deutsche Ausgabe der "Blendung" im Herbstprogramm des Carl Hanser Verlags in München. Ein halbes Jahr vor dieser Veröffentlichung, in einem Brief vom 25. März 1963, schrieb Elias Canetti an seinen Lektor Herbert G. Göpfert:
Elias Canetti
Ich habe mich bei dem blasphemischen Wunsch ertappt, in hundert Jahren ein Hanser Klassiker zu werden. So lächerlich diese Regung mich macht, so spricht sie doch für die verführerische Schönheit Ihrer Bücher.
Des Autors Wunsch sollte auf überwältigende Weise in Erfüllung gehen. Die Veröffentlichung im Hanser Verlag brachte Canettis endgültigen Durchbruch und literarischen Erfolg. "Zweifellos ist Elias Canetti, Literatur-Nobelpreisträger von 1981, der wichtigste deutschsprachige Autor im Carl Hanser Verlag. Der Verlag hat ihn 'entdeckt', trotz anfänglicher Widrigkeiten im deutschen Sprachraum durchgesetzt und auch sein internationales Renommee stark gefördert", stellt Reinhard Wittmann in seiner verlagsgeschichtlichen Publikation "Der Carl Hanser Verlag 1928-2003" fest. "Nach fünfzehn Jahren und fast ebenso vielen Büchern war Canetti bei der literarischen Kritik und einem intellektuellen Publikum in seinem Rang unbestritten, galt als ebenso bedeutsam wie schwierig."
Eine erste Taschenbuchausgabe wurde 1965 veröffentlicht. In der DDR erschien der Roman 1969.