Ostukraine: Unvorbereitet auf Flüchtlingsproblem

In der Ostukraine wird das Flüchtlingselend immer größer. Russland spricht bereits von mehr als 700.000 Flüchtlingen. Doch wirklich einigermaßen präzise Zahlen zur Flüchtlingswelle gibt es nicht, und das hat auch mit der chaotischen Verwaltung der Ukraine zu tun, die auf derartige Probleme nicht vorbereitet ist.

Flüchtlingslager

(c) EPA/ARTHUR SHVARTS

Mittagsjournal, 6.8.2014

Über die mögliche Dimension der Flüchtlingswelle, ihre Folgen und die Probleme bei der Hilfe hat in Kiew Christian Wehrschütz mit Oldrich Andrysek, dem Leiter des UNHCR, des UNO-Flüchtlingshilfswerks, gesprochen.

Schwierige Datenlage

Die UNO spricht bereits von offiziell 285.000 Flüchtlingen; 117.000 entfallen auf die Ukraine, 168.000 auf Russland. Allein in der vergangenen Woche flohen 6.200 Personen. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher sein. Das Donbass-Gebiet, sprich die Bezirke Lugansk und vor allem Donezk, hat Besonderheiten, die es für eine Massenflucht von heute auf morgen besonders anfällig macht. Es ist nicht nur dicht besiedelt, sondern seine Wasserversorgung hängt an einem großen Kanal; hinzu kommen etwa Chlorlager, deren Beschuss ebenfalls massive Folgen haben kann. Das Potential für eine Massenflucht beschreibt in Kiew der Leiter des UNHCR, Oldrich Andrysek anhand einer einfachen Rechnung: "Das Donbass-Gebiet hat 7,5 Millionen Einwohner. Wir schätzen, dass etwa 3,5 Millionen in Gebieten leben, die von Kämpfen erfasst werden können; und das in einer Region, deren Bewohner schon sehr traumatisiert sind, und es viel Misstrauen gegen die Regierung gibt. Wenn nur zehn Prozent fliehen, dann rechnen sie selbst, was das bei 3,5 Millionen Bewohnern heißt."

Gemildert wird die Belastung für die Ukraine dadurch, dass viele Ostukrainer nach Russland fliehen, und durch die enorme Hilfsbereitschaft privater Personen und Organisationen. Andererseits erschwert der Umstand, dass es in der Ukraine keine gesetzlich geregelte Registrierung von Flüchtlingen gibt, ihre zahlenmäßige Erfassung sowie die Planung der Hilfe. Hinzu kommen die Größe des Landes und Gemeinden, denen das UNHCR erst Druckerpatronen und Papier spenden musste, um Berichte zu erhalten. Dazu sagt Andrysek: "Die gesamte Hilfe hat ein gemeinsames Problem: Wie bewertet man den Bedarf einer Gruppe, die über das Land verstreut ist, und wenn man nicht genau weiß, wo sie sind, und wie oft sie seit ihrer Flucht umgezogen sind. Außerdem sind nicht alle bedürftig. Wir wollen aber keine internationalen Hilfegelder verschwenden, damit dann Gegenstände am Schwarzmarkt auftauchen."

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Hilfe durch das UNHCR beschreibt Andrysek so: "Wir sehen Tausende von zerborstenen Fensterscheiben, tausende von völlig oder teilweise zerstörten Wohnungen. Wir könnten pro Familie Zuschüsse zur Selbsthilfe bereitstellen. Man gibt den Familien Glas, Plastikplanen und die Grundausstattung, um die grundlegenden Reparaturen selbst durchzuführen, um die Wohnung bewohnbar zu machen. Natürlich können die Familien die Zentralheizung nicht auswechseln, wenn die Leitungen zerstört wurden. Doch wenn es um ein Loch in der Wand geht, wird man hier in der Lage sein, Ziegel zu organisieren, um das Loch zu stopfen."

Angst vor dem Winter

Beschränkt werden die Möglichkeiten des Flüchtlingshilfswerks der UNO durch seine bisher äußerst beschränkten Mittel. Oldrich Andrysek: "Unsere Finanzlage ist nicht gut. Der Flüchtlingshochkommissar hat aus den Reserven zwei Millionen US-Dollar bereitgestellt. Das ist Geld, das für Syrien und andere Länder bestimmt war. Doch wir erhielten zwei Millionen Dollar, das ist wie ein Sandkorn am Meer. Nur zum Vergleich: Die OSZE-Beobachtermission für sechs Monate kostet 19 Millionen Euro - während ich für sechs Monate zwei Millionen Dollar habe."

Der Geldfluss ist auch deshalb wichtig, weil viele Flüchtlinge derzeit in Kuranstalten oder Ferienheimen untergebracht sind, die nicht winterfest sind. Doch für die kalte Jahreszeit müsse Vorsorge getroffen werden, weil niemand wisse, wie lange der Krieg noch dauern und wie viele Flüchtlinge es noch geben werde, betont Andrysek: "Der einzige Grund, warum ich mich nicht sehr unbehaglich fühle, besteht darin, dass hier niemand vor Hunger und Kälte stirbt. Ohne planmäßiges Handeln kann sich das zwischen Oktober und Dezember rasch ändern. Hunderttausende Menschen ohne Arbeit, nur in Übergangsquartieren, und wenn es kalt ist, sind eine soziale Zeitbombe für die soziale Stabilität in diesem Land."