Ein neuer Dialog zwischen Mensch und Natur

Das Internet der Tiere

In seinem Buch zeigt Alexander Pschera, wie im Internetzeitalter "die Mensch-Tier-Beziehung auf einer neuen Ebene" wiederbelebt und das problematische Verhältnis von Mensch und Natur gerettet werden könnte.

Er heißt Shorty, trägt auf dem verschrumpelten Kopf einen wirren Federbusch und hat einen großen, sichelförmigen Schnabel. Shorty ist ein Waldrapp, ein Schreitvogel aus der Familie der Ibisse, lateinische Bezeichnung: "Geronticus eremita", Gerontischer Eremit. Nach ihrer fast vollständigen Ausrottung in Europa werden Waldrapps heute in Zoos nachgezüchtet und unter menschlicher Aufsicht wieder an das Leben in freier Natur gewöhnt.

Auch Shorty lebt noch nicht selbständig, er gehört zu einem Auswilderungs-Programm: Den Sommer verbringt er in Bayern, den Winter in Italien. Begleitet von Menschen in Ultraleichtflugzeugen, fliegt der Waldrapptrupp über die Alpen in die Toskana. Shorty aber ist dort nie angekommen, er hatte sich verflogen und war in der Schweiz hängengeblieben.

Dass das bekannt wurde, dass man sich um Shorty keine ernsthaften Sorgen machen musste, dass der offenbar nicht wirklich orientierungssichere Waldrapp bei bester Gesundheit blieb, zeigen Fotos von Shorty. Shorty konnte geortet werden, denn Shorty ist ein besonderer Vogel: ein Vogel mit einem GPS-Sender. Seine Route, sein Aufenthaltsort, sein Zustand sind im Internet zu verfolgen - Shorty hat eine Facebook-Seite. Einer seiner Facebook-Freunde ist Alexander Pschera.

Wappentier des Buches

In seinem Buch versucht Alexander Pschera zu zeigen, wie im Internetzeitalter "die Mensch-Tier-Beziehung auf einer neuen Ebene" wiederbelebt und das problematische Verhältnis von Mensch und Natur gerettet werden könnte, was letzten Endes den Raubbau an der Natur und das Verschwinden der Biodiversität verhindern könnte. Tiere, die uns Informationen vermitteln - über den Radius ihrer Aktivitäten, über ihr Paarungsverhalten, ihre Jagd- und Nahrungsgewohnheiten -, gewönnen so etwas wie eine Biografie und würden uns dadurch wieder näher rücken. Ein neues Tier- und Naturbild könnte entstehen, jenseits von abstrakten Statistiken und exotischen Breitwandfilmen. Das "Internet der Tiere" eröffne nichts weniger als die Chance auf eine wirkliche Revolution, die Entstehung einer neuen Sprache zwischen Mensch und Tier - glaubt jedenfalls der, der diesen Begriff geprägt hat.

Animal Tracker als App

Das "Internet der Tiere" - das sind nicht Webseiten von Katzen-, Hunde- und Pferdenarren. Das "Internet der Tiere" - das sind Hummeln, Heuschrecken, Libellen, Schmetterlinge, Fledermäuse, Fischadler, Frösche, Störche, Enten, Antilopen, Schneeleoparden, Braunbären, Wölfe, Wale, Haie, See-Elefanten, Albatrosse, Pinguine, Flughunde und, natürlich, Waldrapps, die schon heute GPS-Sender tragen, die permanent unterschiedlichste Daten senden.

Dialogpartner Tier

Diese "Besenderung" der Tiere, wie man die Einpflanzung von Chips auch nennt, sei keine Tierquälerei, sagt Pschera. Die Sender seien winzig klein und federleicht, würden die Tiere im Alltag nicht einschränken und hätten Sollbruchstellen, um sie, würden sie doch behindern, loszuwerden. Rund 50.000 überwiegend wildlebende, migrierende Tiere sind bereits mit einem solchen Sender ausgestattet. Doch die Zahl wächst rasant. In zwei Jahren, glaubt Pschera, könnten es schon 500.000 sein - und spricht von "Big Animal Data".

Naturvermittlung neu

Früher lebten Tiere in der unmittelbaren Umgebung des Menschen, erklärt Pschera. Sie teilten den Alltag mit ihm, lebten mit ihm unter einem Dach, bewachten Häuser und Dörfer, dienten als Transportmittel und Zugmaschine, spendeten Nahrung und Rohstoffe. Die Industrialisierung machte die Tiere überflüssig. Und mit dem Verlust ihres Nutzens scheint auch das Interesse an und das Wissen über die Tiere weitgehend verloren gegangen zu sein. Das "Internet der Tiere" könnte dies ändern.

Das "Internet der Tiere" hat zunächst einmal wissenschaftlichen Nutzen. Tiere mit Sendern liefern eine Fülle von Daten: Aufenthaltsort und Migrationsrouten können bestimmt, Populationsgrößen und Habitatsprobleme, Körperfunktionen und Ernährungsgewohnheiten können erfasst werden. "Das kommt der Wildtierpflege ebenso zugute wie der Prognose über die Ausbreitung von Krankheiten oder gar Epidemien", sagt Pschera.

Tierische Erfahrungen nutzen

Das Registrieren von Tierverhalten ist aber auch in anderer Hinsicht relevant. Viele Tiere haben ein äußerst feines Sensorium für Veränderungen ihrer Lebensumgebung, sie fliehen aus Erdbeben- und Tsunamiregionen, lange bevor die Katastrophen geschehen, und können Vulkanausbrüche und Lawinenabgänge vorausspüren. "Die Tiere werden so zu Biosensoren", meint Pschera. Er sagt aber auch, der Nutzen des tierischen Erfahrungsschatzes sei "innerhalb der Revolution, die das Internet der Tiere auslöst, ein sekundärer". Der "zentrale Gewinn" läge in der veränderten Beziehung zwischen Mensch und Tier.

Alexander Pschera geht es um mehr als nur um technische Spielereien im Internetzeitalter - nette Apps als neue Form der Wald- und Wiesenpädagogik. Er zielt auf nichts Geringeres als die Grundlegung einer neuen Form der Naturwahrnehmung, einer neuen Philosophie der Natur, die er, vor allem gegen Ende seines Buches, mit einem großen Aufwand an Begriffen zu explizieren versucht. Haben sich schon in den ersten Kapiteln etliche Fragen aufgedrängt - wer organisiert, wer finanziert das Internet der Tiere? Ist das "gläserne Tier" tatsächlich das besser geschützte? Kann man von einem Dialog reden, wenn die Kommunikation immer nur in eine Richtung geht, vom Tier zum Menschen - und nie umgekehrt?

So wird es erst recht da kritisch, wo Pschera vom Boden des Faktischen ins Reich des Philosophisch-Spekulativen schwenkt, von Seinsraum und Seinseinheit spricht, von "Biophilie" und "Natur nach der Natur", digitaler Kosmologie, post-digitalem Dialog, "transhumaner Sprache". Das sogenannte "Internet der Tiere" als Sesam-öffne-dich für eine völlig neue Beziehung von Mensch und Natur - man wird da seine Zweifel haben dürfen.

Außer Zweifel aber steht, dass Alexander Pschera ein glänzender Essayist ist, der, zumindest über weite Strecken, sich klar und pointiert auszudrücken versteht und viele kluge und überzeugende Einsichten formuliert - zu unserem depravierten Naturverständnis, zur Illusion eines romantischen Zurück-zur-Natur, zur kontraproduktiven Wirkung eines dogmatischen Naturschutzes etwa. Ob man aber Pscheras Traum, "in dem der Frankfurter Investmentbanker für einen Moment seinen neuen Porsche vergisst und sich im Internet mit dem Pfeilgiftfrosch anfreundet", ob man diesen Traum mitträumen will, steht genauso auf einem anderen Blatt wie die Frage, ob die Identifikation mit Shorty, dem Waldrapp, uns wirklich die Augen öffnen kann für den Zustand der Natur.

Service

Alexander Pschera, "Das Internet der Tiere - Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur", Verlag Matthes & Seitz Berlin