Ein neuer Dialog zwischen Mensch und Natur
Das Internet der Tiere
In seinem Buch zeigt Alexander Pschera, wie im Internetzeitalter "die Mensch-Tier-Beziehung auf einer neuen Ebene" wiederbelebt und das problematische Verhältnis von Mensch und Natur gerettet werden könnte.
8. April 2017, 21:58
Er heißt Shorty, trägt auf dem verschrumpelten Kopf einen wirren Federbusch und hat einen großen, sichelförmigen Schnabel. Shorty ist ein Waldrapp, ein Schreitvogel aus der Familie der Ibisse, lateinische Bezeichnung: "Geronticus eremita", Gerontischer Eremit. Nach ihrer fast vollständigen Ausrottung in Europa werden Waldrapps heute in Zoos nachgezüchtet und unter menschlicher Aufsicht wieder an das Leben in freier Natur gewöhnt.
Auch Shorty lebt noch nicht selbständig, er gehört zu einem Auswilderungs-Programm: Den Sommer verbringt er in Bayern, den Winter in Italien. Begleitet von Menschen in Ultraleichtflugzeugen, fliegt der Waldrapptrupp über die Alpen in die Toskana. Shorty aber ist dort nie angekommen, er hatte sich verflogen und war in der Schweiz hängengeblieben.
Dass das bekannt wurde, dass man sich um Shorty keine ernsthaften Sorgen machen musste, dass der offenbar nicht wirklich orientierungssichere Waldrapp bei bester Gesundheit blieb, zeigen Fotos von Shorty. Shorty konnte geortet werden, denn Shorty ist ein besonderer Vogel: ein Vogel mit einem GPS-Sender. Seine Route, sein Aufenthaltsort, sein Zustand sind im Internet zu verfolgen - Shorty hat eine Facebook-Seite. Einer seiner Facebook-Freunde ist Alexander Pschera.
Wappentier des Buches
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Der Waldrapp ist ein bisschen das Icon, das Wappentier des Buches, weil hier an einem Tier mal alles durchexerziert wurde, was im Internet der Tiere in Zukunft möglich sein wird. Und ich muss sagen, ich kannte den Waldrapp früher nur aus Büchern. Ich hatte ihn verortet als eine Legende, die es irgendwann einmal gegeben hat, als ein Fabeltier. Und heute - ich würde nicht sagen, er spielt in meinem Leben eine Rolle, das wäre übertrieben. Ich habe mich mit ihm auseinandergesetzt, ich weiß um seine Gefährdung, ich habe ständig Kontakt zu diesen Tieren. Das ist schon eine Form des neuen Dialogs und der neuen Nähe. Etwas, das zum Denken bringt, das im Kopf was verändert.
In seinem Buch versucht Alexander Pschera zu zeigen, wie im Internetzeitalter "die Mensch-Tier-Beziehung auf einer neuen Ebene" wiederbelebt und das problematische Verhältnis von Mensch und Natur gerettet werden könnte, was letzten Endes den Raubbau an der Natur und das Verschwinden der Biodiversität verhindern könnte. Tiere, die uns Informationen vermitteln - über den Radius ihrer Aktivitäten, über ihr Paarungsverhalten, ihre Jagd- und Nahrungsgewohnheiten -, gewönnen so etwas wie eine Biografie und würden uns dadurch wieder näher rücken. Ein neues Tier- und Naturbild könnte entstehen, jenseits von abstrakten Statistiken und exotischen Breitwandfilmen. Das "Internet der Tiere" eröffne nichts weniger als die Chance auf eine wirkliche Revolution, die Entstehung einer neuen Sprache zwischen Mensch und Tier - glaubt jedenfalls der, der diesen Begriff geprägt hat.
Animal Tracker als App
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Das Internet der Tiere kann man vielleicht beschreiben als eine Struktur, die aus vier Elementen besteht: einmal die kleinen Sender, die an den Tieren befestigt sind; dann Empfangsantennen auf Satelliten, die diese Signale aufnehmen; dann Datenbanken, in die diese Daten zurückgeschrieben werden; und schließlich Ausgabegeräte, z.B. gibt es vom Max-Planck-Institut eine App, die heißt Animal Tracker, die jeder Mensch auf sein Telefon laden kann, mit dem er diese Datenbank anzapfen kann. Es ist quasi die Beobachtung der Tiere aus dem Weltall, global und bis auf Insektengröße hinab. Das ist das Internet der Tiere - oder das, was sich gerade als Internet der Tiere gründet.
Das "Internet der Tiere" - das sind nicht Webseiten von Katzen-, Hunde- und Pferdenarren. Das "Internet der Tiere" - das sind Hummeln, Heuschrecken, Libellen, Schmetterlinge, Fledermäuse, Fischadler, Frösche, Störche, Enten, Antilopen, Schneeleoparden, Braunbären, Wölfe, Wale, Haie, See-Elefanten, Albatrosse, Pinguine, Flughunde und, natürlich, Waldrapps, die schon heute GPS-Sender tragen, die permanent unterschiedlichste Daten senden.
Dialogpartner Tier
Diese "Besenderung" der Tiere, wie man die Einpflanzung von Chips auch nennt, sei keine Tierquälerei, sagt Pschera. Die Sender seien winzig klein und federleicht, würden die Tiere im Alltag nicht einschränken und hätten Sollbruchstellen, um sie, würden sie doch behindern, loszuwerden. Rund 50.000 überwiegend wildlebende, migrierende Tiere sind bereits mit einem solchen Sender ausgestattet. Doch die Zahl wächst rasant. In zwei Jahren, glaubt Pschera, könnten es schon 500.000 sein - und spricht von "Big Animal Data".
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Internet der Tiere meine ich als Bild für Vernetzung, für vernetzte Natur, so wie das Internet der Dinge die Realwelt, die gegenständliche Welt vernetzt. Und ich glaube, dass das das Entscheidende im Internet der Tiere ist: Das Fließen von Information von den Tieren an den Menschen zurück. Dadurch werden die Tiere 'sprechfähig' für uns, und wir können sie als Dialogpartner erkennen. Natürlich ist es kein Dialog wie zwischen Menschen. Aber wir holen die Tiere ein Stück weit aus der Anonymität heraus. Es ist ein deutlicher Schritt über die Stummheit hinaus, in der Menschen und Tiere sich momentan befinden.
Naturvermittlung neu
Früher lebten Tiere in der unmittelbaren Umgebung des Menschen, erklärt Pschera. Sie teilten den Alltag mit ihm, lebten mit ihm unter einem Dach, bewachten Häuser und Dörfer, dienten als Transportmittel und Zugmaschine, spendeten Nahrung und Rohstoffe. Die Industrialisierung machte die Tiere überflüssig. Und mit dem Verlust ihres Nutzens scheint auch das Interesse an und das Wissen über die Tiere weitgehend verloren gegangen zu sein. Das "Internet der Tiere" könnte dies ändern.
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Vor fünfzig oder hundert Jahren wären die Kinder noch in den Wald gegangen und hätten mit dem Wald etwas angefangen. Heute wissen wir, dass viele Menschen mit der Natur gar nichts mehr anfangen können. Sie wissen nicht, was sie vor sich haben. Die Natur ist ein Erlebnispark und eine Kulisse der Zivilisation geworden. Vor diesem Hintergrund, vor diesen erschreckenden Zahlen aus Studien, wo man sieht, dass Kinder nicht mal einen Habicht von einem Bussard unterscheiden können oder einen Frosch von einer Unke, braucht es neue Wege der Vermittlung, neue Fenster in die Natur. Die große Herausforderung ist natürlich, diese Technologie, wie ich sie in dem Buch beschreibe, jetzt nicht für sich selbst zu nehmen und zu sagen, ich schaue nur auf mein Smartphone. Eigentlich soll der Blick ja dann von der App weggehen in den Wald hinein.
Das "Internet der Tiere" hat zunächst einmal wissenschaftlichen Nutzen. Tiere mit Sendern liefern eine Fülle von Daten: Aufenthaltsort und Migrationsrouten können bestimmt, Populationsgrößen und Habitatsprobleme, Körperfunktionen und Ernährungsgewohnheiten können erfasst werden. "Das kommt der Wildtierpflege ebenso zugute wie der Prognose über die Ausbreitung von Krankheiten oder gar Epidemien", sagt Pschera.
Tierische Erfahrungen nutzen
Das Registrieren von Tierverhalten ist aber auch in anderer Hinsicht relevant. Viele Tiere haben ein äußerst feines Sensorium für Veränderungen ihrer Lebensumgebung, sie fliehen aus Erdbeben- und Tsunamiregionen, lange bevor die Katastrophen geschehen, und können Vulkanausbrüche und Lawinenabgänge vorausspüren. "Die Tiere werden so zu Biosensoren", meint Pschera. Er sagt aber auch, der Nutzen des tierischen Erfahrungsschatzes sei "innerhalb der Revolution, die das Internet der Tiere auslöst, ein sekundärer". Der "zentrale Gewinn" läge in der veränderten Beziehung zwischen Mensch und Tier.
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Ich sehe eben die Möglichkeiten, diesen Tieren wieder näher zu kommen, denn das Internet der Tiere fördert ja eine Nähe zum Tier, auch wenn sie technisch vermittelt ist, wieder in diesen existentiellen Raum, diesen gemeinsamen Raum zurückzukommen. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, das Internet ist so ein existentieller Seinsraum für Mensch und Tier... Ich glaube, hier geht es wirklich um eine ontologische Frage. Wo auch Philosophen sich wieder einschalten sollten, ein Derrida hat ja da schon erste Ansätze unternommen - wie Mensch und Tier jenseits des New-Age-Denkens und des übertriebenen, extravaganten Tierschutzes tatsächlich in so einen Seinsraum eingehen können.
Alexander Pschera geht es um mehr als nur um technische Spielereien im Internetzeitalter - nette Apps als neue Form der Wald- und Wiesenpädagogik. Er zielt auf nichts Geringeres als die Grundlegung einer neuen Form der Naturwahrnehmung, einer neuen Philosophie der Natur, die er, vor allem gegen Ende seines Buches, mit einem großen Aufwand an Begriffen zu explizieren versucht. Haben sich schon in den ersten Kapiteln etliche Fragen aufgedrängt - wer organisiert, wer finanziert das Internet der Tiere? Ist das "gläserne Tier" tatsächlich das besser geschützte? Kann man von einem Dialog reden, wenn die Kommunikation immer nur in eine Richtung geht, vom Tier zum Menschen - und nie umgekehrt?
So wird es erst recht da kritisch, wo Pschera vom Boden des Faktischen ins Reich des Philosophisch-Spekulativen schwenkt, von Seinsraum und Seinseinheit spricht, von "Biophilie" und "Natur nach der Natur", digitaler Kosmologie, post-digitalem Dialog, "transhumaner Sprache". Das sogenannte "Internet der Tiere" als Sesam-öffne-dich für eine völlig neue Beziehung von Mensch und Natur - man wird da seine Zweifel haben dürfen.
Außer Zweifel aber steht, dass Alexander Pschera ein glänzender Essayist ist, der, zumindest über weite Strecken, sich klar und pointiert auszudrücken versteht und viele kluge und überzeugende Einsichten formuliert - zu unserem depravierten Naturverständnis, zur Illusion eines romantischen Zurück-zur-Natur, zur kontraproduktiven Wirkung eines dogmatischen Naturschutzes etwa. Ob man aber Pscheras Traum, "in dem der Frankfurter Investmentbanker für einen Moment seinen neuen Porsche vergisst und sich im Internet mit dem Pfeilgiftfrosch anfreundet", ob man diesen Traum mitträumen will, steht genauso auf einem anderen Blatt wie die Frage, ob die Identifikation mit Shorty, dem Waldrapp, uns wirklich die Augen öffnen kann für den Zustand der Natur.
Service
Alexander Pschera, "Das Internet der Tiere - Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur", Verlag Matthes & Seitz Berlin