Zensur und Kunst in Russland

Wie unabhängig kann die Kunst noch arbeiten? Das fragen sich viele russische Künstler/innen und Intellektuelle in Russland. Einerseits gewinnen kritische Stimmen wie jene des Künstlerkollektivs "Chto delat?" (Was tun?) immer mehr Publikum, andererseits werden umstrittene Inszenierungen vom Spielplan genommen - zuletzt an der Oper in Nowosibirsk.

Morgenjournal, 11.4.2015

Am 31. März wurde an der Oper in Nowosibirsk in die ebenso umstrittene wie begeistert aufgenommene "Tannhäuser"-Inszenierung vom Spielplan gestrichen. Anlass war ein Plakat zur Oper, auf dem Jesus in der Kreuzigungspose an einem weiblichen Unterleib hängt. Der oberste Priester von Nowosibirsk ließ das Theater wegen "Verletzung religiöser Gefühle" vor Gericht verklagen. Doch obwohl das Theater den Prozess gewann, gab es dem Druck von Kirche und Politik nach und verbannte die Wagnerinszenierung. Jetzt fragen sich viele russische Künstler und Intellektuelle, ob denn nun auch den Theatern, Opern und Filmproduzenten die Gleichschaltung drohe und wie unabhängig die Kunst noch arbeiten kann.

Künstlerkollektiv wehrt sich

"Chto delat?" ist der Name eines russischen Künstlerkollektivs. Mit Straßenaktionen, Ausstellungen und Filmproduktionen macht das linksorientierte Kollektiv seit 2003 Stimmung gegen Putins Politik. Eine der monumentalen Installationen der Gruppe um den Künstler Dmitry Vilensky ist derzeit in Berlin zu sehen. Inmitten des Werks thront eine riesige Skulptur, die an heroische Soldatendenkmäler erinnert. Dmitry Vilensky: "Diese Skulptur kreiert eine gewisse Kontroverse. Einige halten sie für pro-ukrainisch, andere für prorussisch, teilweise auch stalinistisch. Sie ist Teil unserer Auseinandersetzung mit Monumentalität und bezieht sich damit auch auf das aktuelle Russland und die Ukraine-Krise und den Krieg."

"Früher galten wir als Freaks"

Die Soldaten-Skulptur des Kollektivs "Chto delat?" musste ein zweites Mal angefertigt werden. Ihre erste Version wurde von Unbekannten in Berlin Sommer 2014 niedergebrannt. Die Kunstwerke des Kollektivs wären in seiner Heimatstadt St. Petersburg wohl sicherer, witzelt Dmitry Vilensky. Für seine kritische Kunst wird die Lage zunehmend besser. Dmitry Vilensky: "Früher haben uns alle ignoriert. Früher galten wir in Russland als Freaks. Niemand interessierte sich für unsere Arbeit oder unser Agitprop-Theater nach Brecht. Jetzt ändert sich aber alles. Unser Publikum wächst, weil viele nach Möglichkeiten suchen, die Politik zu hinterfragen. Und gerade wurde sogar einer unserer sehr antirussischen Filme für den russischen Staatspreis für zeitgenössische Kunst nominiert."

Kritische Kunst wird nur in kleinen Galerien gezeigt

Das inzwischen international auch in New York und Madrid aktive Künstlerkollektiv „Chto delat?“ hat gute Chancen den Preis zu gewinnen - und das irritiert nicht nur Dmitry Vilensky. Denn wie kann in Russland kritische Kunst möglich sein, wenn Inszenierungen verboten und Theaterdirektoren abgesetzt werden, nur weil sie unbequeme Meinungen vertreten? Der Soziologe Alexander Bikbov beobachtet seit 2011 die russische Protestbewegung gegen Putin - und hat dabei besonders die Künstler im Blick: "Der Einfluss von Künstlernetzwerken oder einer Serie von Veranstaltungen ist sehr limitiert, weil die zeitgenössische kritische Kunst nur in kleinen Galerien gezeigt wird. Sie werden von einem sehr ausgewählten Publikum besucht, die künstlerische Botschaften richtig dekodieren können. Selbst wenn diese Botschaften ein breiteres Publikum haben, werden sie von Medien ignoriert. Kritische Kunst hat heute viel weniger Einfluss als noch zu Zeiten der Sowjetunion."

Pussy Riot als abschreckendes Beispiel

Was jenen passiert, die bekannter werden, davon erzählt der Fall Pussy Riot. Für eine ihre Aktionen wurden Mitglieder des Kollektivs zu Lagerhaft verurteilt. Künstler halten ihre Werke deshalb teils gleich ganz frei von politischen Botschaften oder verschlüsseln sie so sehr, das sie keine Gefahr bedeuten. Zudem beobachtet Alexander Bikbov einen zunehmenden Mangel an Solidarität unter Kulturschaffenden öffentlicher Häuser. Mutige Inszenierungen werde auf Russlands Bühnen noch weniger geben. Alexander Bikbov: "Es gibt eine Art Zensur, aber entscheidender ist Selbstzensur, die an öffentlichen Institutionen wie Theatern oder Universitäten herrscht. Akademiker oder Künstler vermeiden hier alles, was sich riskant anhören könnte. Und viele, die auf ihre Karriere achten, versuchen sich nicht politisch zu äußern."

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