Kurzroman von Michail Prischwin
Der irdische Kelch
Des russische Schriftsteller Michail Prischwin galt als unpolitischer Autor. Dass er aber auch Texte schrieb, die sich kritisch mit der Revolution von 1917 und mit der Entwicklung der Sowjetunion befassten, weiß man erst seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. "Der irdische Kelch" ist so ein Text.
8. April 2017, 21:58
Vom Unterwegssein handeln viele Texte von Michail Prischwin. Der studierte Agronom, Jahrgang 1873, galt in seinen jungen Jahren als Anarchist, weshalb er in den späten 1890er Jahren einige Zeit im Gefängnis und unter Hausarrest verbrachte. Ab 1905 verfasste er Romane und Erzählungen, in denen viel von Natureindrücken die Rede war.
Wir schreiben "Das Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts" - so der Untertitel des Buches. 1919 - das ist in Russland die Zeit von Kriegskommunismus und heraufziehendem Bürgerkrieg. Schauplatz ist ein Gutshof, dessen Besitzer von den Bolschewiki vertrieben wurde; das geplünderte Anwesen im Smolensker Gebiet beherbergt eine Kinderkolonie samt Schule sowie diverse Einrichtungen der neuen Machthaber. Oder in anderen Worten: Es war ein:
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... einziger Saustall: Trotzki hing schief am Nagel, ein weißer Schuh ohne Absatz lag herum, auch ein geflickter Filzstiefel, aus dem Kehricht auf den Treppenstufen sprossen Pilze, und in der Luft surrten Schmeißfliegen - eine grauenerregende Ekelei.
Mit dem Lehrer Alpatow, der als Protagonist von "Der irdische Kelch" in ein wahrhaftes Pandämonium gerät, teilte Michail Prischwin, der nach der Oktoberrevolution selbst sein Landhaus verloren hatte, nicht nur biographische Details; es ist das Schicksal einer ganzen Schicht und Generation der russischen Intelligenzija, deren Höllenfahrt drastisch und bisweilen humoresk-sarkastisch vor Augen geführt wird.
Wie in einem Stationendrama lässt Prischwin sämtliche Helden der neuen Zeit Revue passieren: Das Mossbeerweib und dessen Tochter, die er in Französisch unterrichtet; ein Popensohn, der zum Bolschewiken mutierte, tritt auf und verteilt Sauerkraut; da faseln Kommissare von "Verrat" und drohen unverhohlen mit Erschießung; schließlich sagt einer en passant: "es wird halt getötet!" Neben all dem wird permanent über Russlands Schicksal schwadroniert.
Jedes der zwölf Kapitel beginnt mit einer fulminanten Naturbeschreibung - die im Lauf der Erzählung immer düsterer werden. Am Schluss heißt es nur noch:
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Wie geschossene Vögel fielen aus der Himmelstrübnis die trockenen, schrumpeligen Blätter von den unsichtbaren Bäumen herab auf den Weg, schwach hob sich ein Vorwerk ab: Da leben Menschen.
Das Buch ist großartig (und auch großartig übersetzt) - allerdings wirkt die dichte religiöse Metaphorik, die den ganzen Text durchsetzt, bisweilen ziemlich fett.
Service
Michail Prischwin, "Der irdische Kelch - Das Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts", aus dem Russischen von Eveline Passet, Guggolz Verlag