Ilitschewskis Moskau-Buch "Matisse"

Alexander Ilitschewski gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der russischen Gegenwartsliteratur. 2007 wurde er mit dem russischen Booker-Preis ausgezeichnet, der angesehensten Literaturauszeichnung des Landes, und zwar für "Matisse", einen Roman, der jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Mittlerweile hat der 45-jährige studierte Physiker Russland verlassen.

Morgenjournal, 25.9.2015

"Eine erhellende Zeitdiagnose zum Russland der 90er Jahre"

"Dieses Moskau existiert nicht mehr"

Koroljow ist Mitte Dreißig, er hat früher als Physiker gearbeitet und streift jetzt durch das Moskau der postsowjetischen Umbruchszeit. Er schlägt sich mit verschiedenen Jobs durch, verliert sich in Erinnerungen und sucht als Obdachloser in der Moskauer Unterwelt die "wahre Freiheit". "Matisse, das ist ein Moskau-Buch", sagt der Autor, "aber dieses Moskau, das ich so geliebt habe, das existiert nicht mehr. Auch viele meiner Freunde, viele Intellektuelle haben die Stadt inzwischen verlassen und leben jetzt im Ausland."

Vor zwei Jahren ist auch Alexander Ilitschewski gegangen. Der international angesehene Physiker, Absolvent des renommierten physikalischen-mathematischen Instituts der Moskauer Universität, ist nach Jerusalem ausgewandert. Zuvor hat er noch seiner Stadt, wie er sagt, seinem Moskau ein Denkmal gesetzt. In "Matisse" wollte er die schwierigen 1990er Jahre aufarbeiten, sagt Ilitschewski, die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als viele Menschen in Russland keine Zukunft mehr gesehen hätten.

Fürchten - "heftig und voller Unruhe"

"Es regierte das Angsterhaltungsgesetz. Die Menschen - schon abgestumpft gegen die Verelendung, gegen die qualvolle alltägliche Vergeblichkeit - fürchteten sich, man wusste nicht wovor, aber sie taten es heftig und voller Unruhe. Sie fürchteten keine entfernten Instanzen, keine abstrakten Machtstrukturen, sondern den konkreten Alltag, konkrete Niedertracht, konkrete Demütigungen und Übergriffe. Vor einem war Leere, unter den Füßen war Leere, jeglicher Glaube an die Zukunft ist in der Gesellschaft - und erst recht bei den Mächtigen - längst flöten gegangen", schreibt Alexander Ilitschewski in "Matisse". Mit atmosphärisch dichten Schilderungen fängt er den Epochenumbruch ein, das Chaos nach dem Kollaps der Sowjetunion.

"Wir sehen den Versuch, neue Mythen zu kreieren"

"Der Zerfall der Sowjetunion hat die Menschen heimatlos gemacht, weil der Mythos zerstört war, ein Mythos, der ihnen Heimat war. Jetzt sehen wir den Versuch, neue Mythen zu kreieren, tatsächlich sind das aber nicht mehr als die Versatzstücke der alten Mythen. Es ist geradezu Leichenschändung." Die russische Gesellschaft basiert auf Trugbildern, sagt Alexander Ilitschewski.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei weit und breit nichts von einer neuen Gesellschaft zu sehen, nichts sei passiert. Und er selbst habe sich mehr und mehr gefühlt wie ein Flugzeug im Sinkflug - bis ihm anno 2012 schlagartig klar geworden ist, dass er das Land verlassen muss: "Als ich sah, wie Putin bei seinem Auftritt nach seinem überragenden Wahlsieg im März 2012 von seinen Gefühlen überwältigt wurde, als ich sah, wie Putin weinte, da wusste ich, dass es sehr ernst wird. Das zeigte nicht zuletzt, wie ernst er sich nimmt. Als ich das sah, war mir klar - das heißt für die Zukunft nichts Gutes."

Zu guter Letzt flieht auch Koroljow - hinaus aufs Land, in die russische Weite. Bei uns hinterlässt er eine erhellende Zeitdiagnose zum Russland der 90er Jahre - Alexander Ilitschewski. Sein Roman "Matisse" ist bei Matthes und Seitz erschienen.

Service

Alexander Ilitschewski, "Matisse", Roman, aus dem Russischen von Friederike Meltendorf und Valerie Engler, Matthes & Seitz