Alexander Ilitschewski im Interview

Das Festival Literatur im Herbst wird sich in den kommenden Tagen dem Norden nähern. Rund 20 Autorinnen und Autoren aus Skandinavien, Island, Litauen und vor allem aus Russland - werden im Wiener Odeon und in der Alten Schmiede lesen und diskutieren. Zu Gast ist u.a. Alexander Ilitschewski, der russische Booker-Preisträger.

Norden-Sujet

LITERATUR IM HERBST

Der Reigen prominenter russischer Autoren reicht weiters vom großen Romancier Vladimir Sorokin und der Lyrikerin Jelena Fanajlowa bis zum Drehbuchautor Denis Osokin, der das Buch zu dem preisgekrönten Film "Stille Seelen" schrieb.

Kulturjournal, 7.11.2014

"Ich bin ein Mensch des Nordens", sagt Alexander Ilitschewski und: "In meinem ganzen Leben bin ich davor geflohen. Eigentlich wurde ich im Süden geboren, in Aserbaidschan. In meiner Kindheit habe ich den Unterschied zwischen Nord und Süd am eigenen Leib erfahren. Für mich war es ein Schock, als meine Eltern mit mir als Fünfjährigem vom Kaspischen Meer nach Moskau übersiedelt sind. Ich habe keine Angst vor dem Norden aber Tatsache ist: Es ist eine menschenfeindliche Gegend."

Die Kälte

Norden - das meint nicht allein die Kälte, der Norden - das ist ein kulturelles, ein philosophisches Thema. Und Alexander Ilitschewski zitiert dazu Anton Tschechow: "Wir brauchen keine neue Philosophie, wir brauchen ein anderes Klima", so Tschechow. Ilitschewski schreibt in einem Essay: "Gedanken und überhaupt Zivilisation sind Produkte der Wärme und eines zuträglichen Klimas. In kalten Gegenden, unter dem Joch des Überlebenskampfes, werden keine Gedanken geboren, es entstehen hingegen Macht und Gewalt." - Diese These untermauert Alexander Ilitschewski mit einem drastischen Beispiel: "Es ist ein schreckliches Thema: Für russische Verbrecher, die in der Sowjetunion aus dem Straflager ausgebrochen sind, war es nichts Ungewöhnliches, dass sie auf der Flucht durch Taiga und Tundra einen ahnungslosen Naivling als 'lebende Konserve' mitnahmen."

"Russland steckt noch im 20. Jahrhundert"

Das ist eines von Alexander Ilitschewskis "Bildern aus den kalten Gegenden" - so heißt sein aktueller Essay, den er jetzt zum Thema "Norden" für die die Zeitschrift "Wespennest" verfasst hat. Und er erklärt: "Russland ist grob, das ist bekannt, diese Grobheit ist ein Spezifikum der russischen Machtausübung im 20. Jahrhundert. Wir haben diese Brutalität noch immer nicht hinter uns gelassen - wie es aussieht steckt Russland noch immer im 20. Jahrhundert fest."

Vor eineinhalb Jahren hat Alexander Ilitschewski Russland verlassen: sein Moskau, seine Stadt, wie er sagt, der er in dem Roman "Matisse" ein Denkmal gesetzt hat. 2007 wurde er dafür mit dem russischen Booker-Preis ausgezeichnet. Heute lebt er in Jerusalem.

Das Moskau-Buch "Matisse"

"Matisse, das ist ein Moskau-Buch. Aber dieses Moskau, das ich so geliebt habe, das existiert nicht mehr, auch viele meiner Freunde, viele Intellektuelle haben die Stadt inzwischen verlassen und leben jetzt im Ausland."

Matisse sei eine Analyse der schwierigen 1990er Jahre, sagt Alexander Ilitschewski, einer Zeit, in der viele Menschen in Russland keine Zukunft mehr gesehen hätten: "Der Zerfall der Sowjetunion hat die Menschen heimatlos gemacht, weil der Mythos zerstört war. Ein Mythos, der ihnen Heimat war. Jetzt sehen wir den Versuch, neue Mythen zu kreieren, tatsächlich sind das aber nicht mehr als die Versatzstücke der alten Mythen. Es ist geradezu Leichenschändung."

"Ein Flugzeug im Sinkflug"

Die russische Gesellschaft basiere auf Trugbildern, sagt Alexander Ilitschewski. Ein viertel Jahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sei weit und breit nichts von einer neuen Gesellschaft zu sehen, nichts sei passiert. Und er selbst habe sich mehr und mehr gefühlt wie ein Flugzeug im Sinkflug - bis ihm anno 2012 schlagartig klar geworden ist, dass er das Land verlassen muss.

"Als ich sah, wie Putin bei seinem Auftritt nach seinem überragenden Wahlsieg im März 2012 von seinen Gefühlen überwältigt wurde. Als ich sah, wie Putin weinte, da wusste ich, dass es sehr ernst wird. Das zeigte nicht zuletzt, wie ernst er sich nimmt. Als ich das sah, war mir klar - das heißt für die Zukunft nichts Gutes", sagt Alexander Ilitschewski.

Sein Roman "Matisse" erscheint Ende November in einer Übersetzung von Friederike Meltendorf und Valerie Engler bei Matthes und Seitz. Seinen Essay "Ohne Mensch - Bilder aus den kalten Gegenden" hat er in der aktuellen Nummer der Zeitschrift "Wespennest" publiziert, die jetzt zur Literatur im Herbst einen "Norden"-Schwerpunkt hat. Das Festival wird heute im Wiener Odeon eröffnet und dauert bis Sonntag.