Navid Kermani: "Einbruch der Wirklichkeit"

Entlang der Flüchtlingsroute ist der Friedenspreisträger Navid Kermani durch Europa gereist - im Auftrag des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Aus dieser Reportage hat Nermani jetzt ein Buch gemacht.

Der 48-jährige Autor mit iranischen Wurzeln ist einer der wichtigsten Vermittler zwischen der islamischen und der westlichen Welt. Als Orientalist hat er u. a. eine Studie über islamische Selbstmordattentäter verfasst, als Romancier einen 1.200-Seiten-Roman geschrieben, als Reporter hat er die Krisenregionen dieser Welt bereist.

Morgenjournal, 22.1.2016

"Eindringlicher Beitrag zur aktuellen Debatte."

Von Budapest nach Izmir - Ende September 2015 war Navid Kermani auf der Flüchtlingsroute unterwegs, begleitet vom Magnum-Fotografen Moises Saman. Seine Erfahrungen auf dieser Tour, Recherchen, Interviews und Überlegungen zur Asylpolitik hat er jetzt in einer großen Reportage zusammengeführt.

"Für Verständnis sorgen"

Kermani hat mit dem kroatischen Innenmister gesprochen und mit Opfern der Schlepper-Mafia, mit Rot-Kreuz-Helfern und Flüchtlingen nach glücklich überstandener Überfahrt. Wenn er von seinen Begegnungen berichtet, dann tue er das nicht, um Meinungen zu produzieren, betont Navid Kermani, sondern um zu erklären und für Verständnis zu sorgen.

Einfühlsame Reportage

"Das sind nicht irgendwelche fremden Heerscharen von Barbaren, sondern das sind Einzelschicksale, das sind Menschen!" Das macht Navid Kermani in dieser einfühlsamen Reportage mehr als deutlich. Er erzählt von beraubten und betrogenen Flüchtlingen, vom verwahrlosten Camp vor dem Belgrader Bahnhof, von bewegenden Szenen am Stand von Lesbos, wenn Menschen klitschnass und zitternd vor Kälte landen.

Todesangst und Freudentränen

"Aus jedem der Boote springen einem Todesangst und Freudentränen, Existenznot und Dankbarkeit, Stoßgebete und bohrende Fragen entgegen", heißt es da. Und weiter: "Die ganz großen Gefühle erfassen unweigerlich einen selbst, Tränen, Zärtlichkeit und jedes Mal Wut über eine europäische Asylpolitik, die wie in einem perversen Aufnahmeritus Schutzsuchenden diese Tortur, diese Lebensgefahr auferlegt."

"Asyl ist kein Grundrecht mehr"

Der eigentliche Motor für das Schlepperwesen ist die Europäische Union, meint Navid Kermani und erzählt die Geschichte von einem jungen syrischen Kurden. Er sitzt in der Türkei, weil er beim Aufspringen auf das volle Flüchtlingsboot Panikattacken hatte und wieder abgesprungen ist. "Ich bin gespannt, ob wir es schaffen, ihm diese Schlauchbootfahrt zu ersparen. Wenn wir es ihm nicht ersparen, wird er wieder in ein Boot springen und der Schlepper wird sich freuen", das heißt, Asyl ist kein Grundrecht mehr, sagt Navid Kermani.

Die Kriege und Krisen an den Rändern unseres Wohlstandsghettos haben uns erreicht - "Einbruch der Wirklichkeit" heißt denn auch Navid Kermanis Reportagenband, ein eindringlicher Beitrag zur aktuellen Debatte.

Service

Navid Kermani: "Einbruch der Wirklichkeit - Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa", mit Photographien von Moises Saman, C. H. Beck, 2016