Buchcover, Alfred Kubin

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Salzburger Nachtstudio

Alfred Kubin und "Die andere Seite"

Einer Schaffenskrise als Zeichner verdankt sich Alfred Kubins Roman "Die andere Seite". Zentrales Thema des Romans ist die Dualität der Welt. Kubin erzählt eine Geschichte, die Hoffnung gibt. Eine Einladung in ein Traumland verspricht das Paradies. Am Ende steht der Überwachungsstaat.

Parallelen zum Heute

Es ist eine Geschichte, die Hoffnung gibt. Eine Einladung in ein Traumland verspricht das Paradies. Am Ende steht der Überwachungsstaat. Parallelen zur Gegenwart tun sich auf; sie finden sich bei Islamisten, bei totalitären Regimen, bei radikalen Revolutionären und bei all jenen, die wissenschaftsgläubig ohne Wenn und Aber eine neue Welt nach ihren Vorstellungen errichten wollen.

Die Stadt im Reich der Fantasie heißt Perle. Angesiedelt ist sie, im ewigen Dämmerlicht liegend, irgendwo an der Seidenstraße. Von der Außenwelt durch einen Vorhang aus Wolken abgeschottet, folgen die Bewohnerinnen und Bewohner den Gesetzen des Multimillionärs Claus Patera, des Herrn des Traumlands. Was hat er vor? Was erwartet die Neuankommenden, was Franz Gautsch und seine Frau?

Kubins Krisenbewältigung

Schriftsteller Alfred Kubin, auch der Illustrator der Dunkelheit genannt, schrieb seinen einzigen Roman während einer Schaffenskrise, wollte dadurch seine Zeichenblockade überwinden. Entworfen hat er ein Reich der Fantasie, in dem Gut und Böse nicht zu unterscheiden sind, sprich: auch nicht, was richtig und was falsch ist.

Die Dualität der Welt

Zentrale Themen in Kubins Roman "Die andere Seite" sind die Erkenntnis über die Dualität der Welt und die Zusammengehörigkeit der Gegensätze. Urgewalten treffen aufeinander, die im Kampf zusammenwachsen zu einer ununterscheidbaren Masse. "Der Demiurg ist ein Zwitter." Die Geldwirtschaft und das Vermögen des Einzelnen sind nicht mehr kalkulierbar, hängen von Zufällen und davon ab, wie sich das Rad der Fortuna dreht. Die Bürokratie funktioniert nicht, die Apokalypse nimmt ihren Lauf. Das Traumreich geht unter, es herrscht Dunkelheit, Nacht bricht herein. Folgt man den Überlegungen des französischen Philosophen Michel Foucault, trägt jeder Mensch ein Stück Nacht in sich.

Die Kunst setzt sich damit intensiv auseinander, weil sich die Szenen der Nacht der Logik des Tages entziehen. Das beginnt mit den Schöpfungsmythen der frühen Griechen, führt über Shakespeare und Milton zur europäischen Romantik. Die Psychoanalyse hat als erste Wissenschaft von der nächtlichen Logik systematisch Gebrauch gemacht, und die britische Schriftstellerin Virginia Woolf denkt den Tag von der Nacht her, "damit die Nacht für den Tag Texte erschafft".

Kubins Roman als Oper

Beim diesjährigen Festival 4020 in Linz, das von 3. bis 6. Mai stattfindet, haben sich auch Musikerinnen und Musiker mit den Träumen der Nacht sowie der Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt und dem Erwachen in einer unruhigen und fremden Gegenwart auseinandergesetzt. Michael Obst komponierte über Alfred Kubins abenteuerliche Reise in eine merkwürdige Stadt auf der anderen Seite der Welt eine Oper. Zarte A-cappella-Chorpassagen, klanggewaltige Massenszenen, scharfe, eindringliche Passagen von morbider und fragiler Schönheit treffen darin zum Libretto von Hermann Schneider aufeinander. Die Schattenseite der Vernunft wird inszeniert.

Gleichzeitig zeigt die literarische, zeichnerische und nun auch musikalische Übertragung von Träumen in eine fiktive Realität, was es bedeutete, würden Träume Wirklichkeit. Und beim CityScienceTalk im Musiktheater Linz wird klar, dass philosophisch und kulturwissenschaftlich betrachtet die Auseinandersetzung mit der "anderen Seite" nichts an Aktualität eingebüßt hat.

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Landestheater Linz - Die andere Seite