Buchseite

AFP/GEORGES GOBET

Du Holde Kunst

"Das Größte in der Welt ist, sich selbst gehören zu können"

Wolfgang Hübsch liest Ausschnitte aus Michel de Montaignes Essay "Von der Einsamkeit".

In der Spätrenaissance, in der die Religionen während der Hugenottenkriege viele Wahrheiten ins Wanken brachten, indem sie sie absolut setzten, begab sich der Humanist Michel de Montaigne (1533-1592) auf die Spur der alten Skeptiker, die postulierten, dass "es keinen Grund gibt, der nicht einen Gegengrund hat" – wie beispielsweise Pyrrhon von Elis (ca. 360 – ca. 270 v. Chr.) geschrieben hatte. Als Konsequenz daraus ergab sich auf der Ebene der Logik das Verbot, Urteile zu fällen und auf der Ebene der Ethik die Toleranz. Auf der literarischen Ebene war die Konsequenz ein Schreiben, das keiner Doktrin, sondern nur dem Hin und Her der eigenen Gedanken folgt: der Essay war geboren.

"Ich will, dass man meinen natürlichen Gang sehe, so stolpernd er auch ist." (Montaigne über sein Schreiben).

107 solcher "Versuche" schrieb Montaigne mit zurückhaltender Gelehrsamkeit und aristokratisch leichtfüßiger Originalität. Der Satz "Das Größte in der Welt ist, sich selbst gehören zu können" beendet einen Absatz des Essays "Von der Einsamkeit". Montaignes Thesen zu den Voraussetzungen persönlicher Souveränität erscheinen auch heute radikal. Denn nicht nur von den Lockungen diverser Begierden und des Ehrgeizes gilt es sich zu befreien, das "ihm Eigene" des Menschen darf sich auch nicht mit anderen Menschen verbinden.

"Gewiss, der verständige Mensch hat nichts verloren, solange er sich selbst besitzt." (Montaigne "Von der Einsamkeit")

Dies gilt auch für Angehörige und Freunde. Die Aufsparung eines "Hinterstübchens", in dessen Abgeschiedenheit niemand eindringen und eine "Zuflucht", eine "wahre Freistatt" errichtet werden kann, ist Voraussetzung für die Zwiesprache mit sich selbst.

"Unsre Seele kann sich auf sich selbst zurückwenden; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten…"

In Zeiten allgegenwärtiger Zerstreuungsangebote, in denen sich der Mensch mit unterhaltungsindustriell hergestelltem "Input" befüllen lässt und in all der Berieselung und Dauerbeschallung kaum noch so ein "Hinterstübchen" aufzusuchen imstande ist, lesen sich Montaignes Überlegungen – auch wenn sie ihre untermauernden Beispiele aus anderen Bereichen ziehen – hochaktuell.

Die ersten beiden Bücher seiner schon zu Lebzeiten sehr erfolgreichen "Essais" verfasste Montaigne während seines – mit kleinen Unterbrechungen - zehnjährigen Rückzugs in den Turm seines Schlosses. Der äußere Anlass für dieses freiwillige Exil war ein trauriger: 1563, erst 30 Jahre alt, stürzte Montaigne durch den Tod seines Freundes Etienne de la Boetie in eine tiefe Krise. Mit Boetie, der wie Montaigne Parlamentsrat in Bordeaux war und mit seinem Buch "Von der freiwilligen Knechtschaft" zu den Urvätern des Konzepts des passiven Widerstands gehört, verband ihn eine außergewöhnliche Freundschaft. Boetie, nur drei Jahre älter als Montaigne, war an der Ruhr gestorben.

Verbitterte Weltabgewandtheit findet sich jedoch keineswegs in Montaignes Texten. Vielmehr dreht sich alles um ein „richtiges Leben“. Über die Notwendigkeit und Beschaffenheit eines gelungenen Rückzugs reflektieren die für die Sendung ausgewählten und von Wolfgang Hübsch gelesenen Textpassagen. Dazu hat Michael Blees Musik von Francois Joseph Gossec, Andre Ernest Modeste Gretry, Rodolphe Kreutzer und Francois Devienne zusammengestellt.