"Die Zauberflöte" bei den Salzburger Festspielen 2006 (c) APA/Hans Klaus Techt
Geahnt, aber verborgen
Psychoanalytische Aspekte von Mozarts "Zauberflöte"
5. November 2017, 02:00
Die Oper beginnt höchst dramatisch. Ein junger Mann befindet sich in Lebensgefahr: "Zu Hilfe! Zu Hilfe! Sonst bin ich verloren. ... Ach, rettet mich! Ach rettet, rettet, schützet mich. Ach schützet, schützet, rettet, rettet, rettet, schützet!" Eine Schlange ist es, durch die sich Tamino so sehr gefährdet fühlt, dass er in Ohnmacht fällt.
ORF/Lukas Beck
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Spieldauer: 69:11 Min.
Ein junger Mann, der vor einer Schlange in Ohnmacht fällt? Goethe ließ, um den Beginn der "Zauberflöte" glaubwürdiger erscheinen zu lassen, in seiner Weimarer Inszenierung die Schlange durch einen Drachen ersetzen. Für einen Psychoanalytiker ist Symbol und Bedeutung klar: Die Schlange sei ein Sinnbild der großen Mutter und Taminos Ohnmacht "bedeutet in symbolischer Übersetzung, dass seine Männlichkeit nicht genügend gefestigt ist, um eigene Schritte in die Autonomie zu vollziehen", so der Psychologe Bernd Oberhoff. Ähnliches wird später Pamina, der wirklichen Heldin der Oper, passieren - auch sie wird in Ohnmacht fallen, weil sie die erste Konfrontation mit männlicher Sexualität überfordern wird.
Oberhoffs Grundthese ist, dass in der "Zauberflöte", oft auf mehreren Ebenen, entwicklungspsychologische Problemkonstellationen vermittelt werden, die aus frühkindlichen Erfahrungen gespeist, in der Adoleszenz neu aufbrechen "und den jugendlichen Menschen zu einem erneuten Lösungsversuch herausfordern". Damit die notwendige Ablösung von den Eltern in der Adoleszenz wirklich gelingen kann, muss zuvor der Abschied und die Trennung aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung vollzogen werden. Pamina, die Tochter der Königin der Nacht, wird dieser Schmerz gegen Ende der Oper an den Rand des Selbstmords bringen.
Die "Zauberflöte" erzählt vom Erwachsenwerden zweier jugendlicher Protagonisten, von inneren Wandlungsprozessen und Desillusionierungen, die Voraussetzung für ein in jeder Hinsicht aufgeklärtes "erwachsenes" Leben sind. Diesen inneren Wandel, den Tamino und Pamina - oft schmerzhaft und sich "Prüfungen" unterziehend - durchmachen, bringt die Oper auch als äußeren Wandel zur Erscheinung und zwar, wie der Kulturwissenschaftler Jan Assmann ausführt, "an der scheinbaren, sich in Wahrheit nur in den Augen der Betrachter abspielenden Verwandlung der Königin der Nacht aus der guten Fee in einen Dämon und des Sarastro aus einem Entführer und 'Bösewicht' in einen Herrscher voller Weisheit und Güte". Für die Entwicklung der Hauptakteure, vor allem Taminos, wird Sarastro eine wichtige Rolle spielen. Erst die positive Identifikation mit ihm hilft Tamino, sich aus der Abhängigkeit von der Mutter zu lösen.
Die Rolle der "großen Mutter", der Königin der Nacht, ist ambivalent: In ihrem Auftrag überreichen die drei Damen den jungen Männern zwei wichtige Geschenke: eine Zauberflöte für Tamino und ein Glockenspiel für Papageno. Sehr schöne Symbole dafür, was die frühe Mutter-Kind-Beziehung dem Säugling an Lebensrüstwerkzeug mitgeben kann, meint Bernd Oberhoff, sie symbolisieren das Urvertrauen, das - vergleichbar den magischen Kräften von Flöte und Glockenspiel - dem Kind in Situationen arger Bedrängnis zur Verfügung steht, um Gefühle der Niedergeschlagenheit wieder in Lebensmut umzuwandeln. "Die Zauberflöte", so versprechen die drei Damen, "wird dich schützen, im größten Unglück unterstützen. Hiermit kannst du allmächtig handeln, der Menschen Leidenschaft verwandeln. Der Traurige wird freudig sein, den Hagestolz nimmt Liebe ein". Ebenfalls aus dem Reich des Mütterlichen stammen die drei Knaben - sie sind "gute innere Stimmen". Sie treten immer dann auf, wenn sich die Protagonisten in einem Zustand der Verwirrung, der Verzweiflung oder der Ausweglosigkeit befinden, also in Zeiten einer psychischen Krise.
Er ist eine männliche Figur in einem Federkleid: Papageno. Auch er befindet sich im Machtbereich der Mutter, der Königin der Nacht, für die er arbeitet. Ihm verdankt die "Zauberflöte" ihr kindgerechtes Image, obwohl sie keine Kinderoper ist.
Papageno sei der Prototyp eines Verdrängers, allerdings eines sympathischen, sagt Oberhoff: "Er lässt seine Gefühle nicht an sich herankommen und weicht allen Konfrontationen aus. Die erheiternden Späße Papagenos täuschen den Zuschauer über die Realität hinweg, dass es sich bei dieser Person im Grunde um eine Jammergestalt handelt, die auf dem Niveau kindlicher Oralität fixiert geblieben ist und einer psychischen Weiterentwicklung zum Mann massivste Widerstände entgegensetzt und diese auch noch idealisiert und naiv verherrlicht". Andererseits ermögliche Papageno, dass sehr ernste psychische Konfliktproblematiken überhaupt erst ausgebreitet werden können. Oberhoff: "Wir rühren hier offenbar an das Erfolgsgeheimnis der "Zauberflöte": Die Oper bietet abgewehrte psychische Problemsituationen dar, vor deren Bewusstwerdung der Zuschauer jedoch geschützt wird, indem ein Prototyp der Verdrängung auf freundliche Weise dazu einlädt, solch schmerzliche Gefühle nicht über die Schwelle des Bewusstseins treten zu lassen. ... Der Opernbesuch erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie der ungedeutete nächtliche Traum: Man kann sich kurzfristig entlasten, ohne wirklich erinnert zu haben".
Papagenos Rolle ist nicht ohne Brechung. Wenn er in einer kurzen Passage seines Auftritts gegen Schluss meint: "Nun wohlan, es bleibt dabei! Weil mich nichts zurücke hält, gute Nacht, du falsche Welt!", dann lässt uns das kurzzeitig ganz tief auch in den Papageno’schen Gefühlsabgrund schauen. Doch bevor dieser suizidale Sog zu stark wird, retten ihn - mit Engelsstimmen - die drei Knaben: "Halt ein, o Papageno, und sei klug; Man lebt nur einmal, dies sei dir genug!" Als Papageno noch nicht seine Papagena gefunden hat und Pamina noch nicht ihren Tamino, als beide noch "jung und unerfahren" sind, dürfen sie im Vorgriff auf ersehnte zukünftige Liebesbeziehungen einmal probeweise in die Rolle von großen Liebenden schlüpfen. "Wir wollen uns der Liebe freun, Wir leben durch die Lieb’ allein" (aus "Bei Männern, welche Liebe fühlen …"), eines der berühmtesten Liebesduette der Operngeschichte, wird von einem Paar gesungen, das sich sicher sein kann, keines zu werden (und nur deshalb ist es ihnen auch möglich). "Mann und Weib, Weib und Mann / Reichen an die Gottheit an" - hier gibt es keinen Standesunterschied und keinen Rangunterschied der Geschlechter, hier vollzieht sich die für die "Zauberflöte" typische "Sakramentalisierung der Liebe", so der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer. Auch wenn die "Zauberflöte" von einem "empfindsamen Paternalismus" geprägt ist, steht am Ende der "Zauberflöte" eine Vision jenseits von matriarchalischen oder patriarchalischen Grundprinzipien - am Ende erscheinen Tamino und Pamina, beide in priesterlicher Kleidung, als Abbild des göttlichen Paares Isis und Osiris. Pamina wird selbst in den Kreis der "Eingeweihten" aufgenommen, die damit aufhören, ein Männerbund zu sein. Sie ist es auch, die den Geliebten, bei der letzten Prüfung, nach den Schreckenspforten, führen wird: ("Ich werde aller Orten an deiner Stelle sein "Ich selbsten führe dich - Die Liebe leitet mich").
Was für ein Unterschied zum ersten Auftritt Paminas in der "Zauberflöte"! Da finden wir sie in Sarastros Palast, bewacht und bedrängt von Monostatos. Pamina startet am gleichen Punkt wie Tamino, nämlich in einer entwicklungspsychologischen Krise (und auch sie fällt erst einmal in Ohnmacht). Wie zuvor Tamino dem bedrohlich Mütterlichen, so ist hier Pamina der Konfrontation mit der männlichen Sexualität offensichtlich noch nicht gewachsen. Dass Pamina angesichts der sexuellen Nötigung durch Monostatos da noch eher an die Sorgen der Mutter denkt als an ihr eigenes Missgeschick - "der Tod macht mich nicht beben, nur meine Mutter dauert mich" -, macht sie, so meint Bernd Oberhoff, als eine Tochter kenntlich, die noch in kindlicher Weise an die Mutter gebunden ist. Erst im Lauf der Oper und aufgrund der Liebe zu einem Mann, gelingt es Pamina, sich von dieser naturhaft-elementaren Urbeziehung zur Mutter zu lösen. Pamina ist für den Psychologen Bernd Oberhoff "die Heldin der Oper - von Sarastro gefangen gehalten, von Monostatos fast vergewaltigt, von der eigenen Mutter zum Mord aufgefordert, von ihrem Geliebten (scheinbar) verlassen … niemand hat solche Prüfungen zu bestehen."
"Heldinnenhaft" sei auch, dass Pamina das Schweigen des Geliebten (für Tamino von freimaurerischen Männern als Prüfung erdacht) als "schmerzvolle Erfahrung frühkindlicher Verlustängste" wiedererlebt, "ohne dies jedoch innerlich oder mit Worten abzuwerten. Pamina hat die Kraft, sich diesem Verlassenheitsgefühl auszusetzen und neuen Lebensmut zu gewinnen ...". Sie ist es auch, die Tamino beim Weg durch Feuer und Wasser anleitet, die Zauberflöte (die einst ihr Vater geschnitzt hat) zu spielen. Diese ist die "humanisierende Gegenkraft zur Macht des Elementaren, ob es sich um die Raserei der unbelebten Natur, des wilden Tierreichs oder der Affektwelt des Menschen handelt", sie hilft alle Gefahren zu überstehen, "und die geniale Musik Mozarts", so Bernd Oberhoff, "… tut das Ihre dazu, dass sich jeder Zuschauer am Ende der Vorstellung nach den vielen dramatischen Ereignissen mit guten psychoästhetischen Gaben reich beschenkt und in wohliger Stimmung auf den Heimweg begeben kann …"