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Dimensionen
Wessen Stimme zählt?
Im September 2017 hat Deutschland den Bundestag gewählt. Nummer Eins wurde, wenig überraschend, die Union aus CDU und CSU mit Angela Merkel an der Spitze. Nummer Zwei wurde die sozialdemokratische SPD - nach der gängigen und rechtsgültigen Lesart.
21. Dezember 2017, 02:00
Die soziale Repräsentativität von Wahlen
Dimensionen (21 11 2017)
Nach einer anderen Lesart erreichte bei der Bundestagswahl 2017 allerdings eine andere Gruppe Platz Zwei: Nämlich die Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Denn 23,8 Prozent der Wahlberechtigten, also fast 15 Millionen Deutsche, verzichteten darauf ihre Stimme abzugeben.
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"Wahlbeteiligung nicht mehr sozial repräsentativ"
Wer glaubt, dass die Wahlbeteiligung innerhalb aller Bevölkerungsgruppen gleich stark abnimmt, der bzw. die irrt. Das konnten Forscherinnen und Forscher der Deutschen Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Max Planck Institut für Gesellschafsforschung nachweisen. Ihr Fazit lautet: Die Wahlbeteiligung sinkt und ist nicht mehr sozial repräsentativ.
Bildungs- und einkommensstarke, sozial privilegierte Schichten gehen zur Wahl. Sozial prekäre Schichten, einkommens- und bildungsschwächeren Menschen gehen nicht wählen.
Robert Vehrkamp ist Volkswirt und Politologe und leitet das Projekt Zukunft der Demokratie der Bertelsmann Stiftung. Dass sozial gespaltene Wahlbeteiligung hält er für problematisch: "Ich glaube, ein realistisches Bild von Politik ist, dass gewählte Politiker zunächst einmal die Interessen ihrer Wähler vertreten und nicht die Interessen jener, die sie nicht gewählt haben bzw. jener, die überhaupt nicht wählen. Und dann führt eine sozial nicht repräsentative Wahlbeteiligung zu einer sozial nicht repräsentativen Politik. Und zu einer Unterrepräsentation bestimmter Gruppen und damit auch bestimmter Interessen in der Politik."
Für ihre erste umfassende, repräsentative Studie zur sich ändernden Wahlbeteiligung haben die Forscher eine neue Methode entwickelt. Sie verlassen sich nicht mehr auf Umfragen bzw. persönliche Interviews, in denen Befragte gerne sozial erwünschte Antworten geben: "Wir haben uns deshalb die tatsächliche Wahlbeteiligung in Stadtbezirken, in Wohnvierteln, in Straßenzügen, angeschaut, und haben das mit Sozialindikatoren korreliert."
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Je prekärer, desto seltener zur Wahl
Die repräsentativen Forschungsarbeiten zeigen: Angehörige sozial benachteiligter und bildungsferner Schichten haben sich übermäßig stark von der politischen Teilhabe bei Wahlen zurückgezogen.
"Nehmen wir eine Großstadt wie Köln als Beispiel. Da gibt es ein Viertel, das nennt sich Köln-Chorweiler. Das ist ein sozial prekäres Viertel gekennzeichnet von Hochhausbebauung, hoher Arbeitslosigkeit, geringer Kaufkraft, geringem Einkommen, geringem Bildungsstand der dort lebenden Menschen. Der Migranten- und Ausländeranteil ist hoch. Die Wahlbeteiligung liegt bei 30 bis 35 Prozent. Dann fahren Sie ein paar Kilometer weiter nach Marienburg. Das ist ein Viertel mit vielen bürgerlichen Einfamilienhäusern. Da liegt die Wahlbeteiligung bei 85 Prozent", so Vehrkamp.
Bei der Bundestagswahl 2013 haben die oberen zwei Drittel der Gesellschaft erheblich größeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestages genommen als das untere Drittel.
Dazu kommt: In sozial prekären Stadtvierteln leben in der Regel überdurchschnittlich viele Personen mit Nicht-Deutscher Staatsbürgerschaft, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Zählt man also Personen ohne Wahlberechtigung und Nichtwähler zusammen, geht in manchen Stadtteilen weniger als ein Drittel der dort Ansässigen zur Wahl.
Bereits in den 1930er Jahren formulierte der schwedische Politikwissenschaftler Herbert Tingsten eine Gesetzmäßigkeit: Je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt, desto ungleicher ist sie. Es gibt aber noch weitere Faustregeln. Je höher die Arbeitslosigkeit, desto höher die Zahl der Nichtwähler. Und: "Je sozial privilegierter die Menschen sind, je höher ihr Bildungsstand ist, je höher ihr Einkommenstand, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie wählen gehen."
Nichtwählen wird vererbt
In Österreich gibt es zum Phänomen der gespaltenen Wahlbeteiligung bei Wahlen auf nationaler Ebene derzeit noch keine Studien. Was bekannt ist: Sowohl in Österreich, als auch in Deutschland, geht die jüngste wahlberechtigte Altersgruppe deutlich seltener zur Wahl als der Durchschnitt.
In Deutschland bilden Jungwählerinnen und Jungwähler die Gruppe mit der geringsten Wahlbeteiligung: "Unsere Analysen zeigen, dass die soziale Spaltung bei den Erstwählern und bei den jüngeren Menschen noch sehr viel stärker ausgeprägt ist, als in der Wählerschaft insgesamt. Das heißt, wir gehen davon aus, dass sich Nichtwahl in sehr starkem Maße vererbt. Und das ist auch der Grund, warum wir davon ausgehen, dass sich das Problem in Zukunft sogar noch weiter verschärfen könnte."
Die Menschen fühlen sich in Ihren Interessen nicht mehr vertreten und ziehen sich resigniert zurück.
Mobilisierungsschwäche traditioneller Parteien
Mit der Bundestagswahl 2017 ist in Deutschland die Wahlbeteiligung auf nationaler Ebene wieder leicht gestiegen - zum ersten Mal seit 20 Jahren. Das geht vor allem auf das Konto der rechtspopulistischen AfD. Denn in den sozial prekären Stimmbezirken mit traditionell geringer Wahlbeteiligung konnte die AfD diesmal viele Menschen für sich mobilisieren.
Robert Vehrkamp beschäftigt sich auch mit der Frage, warum Menschen nicht an Wahlen teilnehmen. "Was wir am Häufigsten in qualitativen Interviews von Menschen hören, die sich dauerhaft von der Wahlbeteiligung zurückgezogen haben, ist, dass sie sich keine Besserung ihrer meist sozial prekären Situation versprechen."
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USA: Top-Verdiener haben mehr Einfluss
Stimmt die Vermutung vieler Nichtwählerinnen und Nichtwähler, dass ihre Stimme nichts bzw. wenig bewirkt? In den USA, an der renommierten Princeton University, geht der Politologe Martin Gilens seit über fünfzehn Jahren dieser Frage nach.
Das Ergebnis: Wenn Durchschnittsbürger ein politisches Vorhaben unterstützen, ist es egal, wie viele von ihnen das tun. Ob zehn oder hundert Prozent - die Wahrscheinlichkeit, dass die besagte politische Maßnahme auch tatsächlich umgesetzt wird, bleibt gleich niedrig..
Unterstützen Durchschnittsbürger ein politisches Vorhaben, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung niedrig. Unterstützen Reiche ein Vorhaben stark wird die Umsetzung viel wahrscheinlicher.
Anders in der Klasse der Top-Verdiener, so Gilens: "Unterstützen diese eine politische Maßnahme stark, wird umso wahrscheinlicher, dass diese umgesetzt wird, je mehr Reiche sie unterstützen. Das gilt selbst dann, wenn die Mitteklasse und untere Einkommensschichten, und damit die Mehrheit, dagegen sind. Und umgekehrt: Unterstützen die ökonomischen Eliten ein politisches Vorhaben kaum, stehen die Chancen hoch, dass es nicht umgesetzt wird."
USA als konservativer Wohlfahrtsstaat
Martin Gilens und sein Kollege Benjamin Page haben die politischen Präferenzen der US-Bevölkerung nach Einkommensklassen untersucht. Dazu haben sie Umfragen ausgewertet, die zwischen 1981 und 2002 geführt worden sind und in denen knapp 2000 Fragen zu unterschiedlichen politischen Sachfragen gestellt wurden. Unter anderem zur Steuerpolitik, zur Sozialpolitik und zur Minderheitenpolitik.
In der Folge haben Gilens und Page analysiert, welche der abgefragten politischen Präferenzen auch tatsächlich umgesetzt worden sind. Das Fazit: "Hätte die US-amerikanische Mehrheitsbevölkerung tatsächlich die Regierungspolitik stark mitgestalten können, hätten wir zum Beispiel ein progressiveres Steuersystem, eine umfassendere Gesundheitsversorgung, mehr Unterstützung für Familien, eine bessere Förderung für öffentliche Schulen. Die Finanz- und Energieindustrie wären stärker reguliert.
Hätte die US-amerikanische Mehrheitsbevölkerung tatsächlich die Regierungspolitik stark mitgestalten können, würden die USA den europäischen Wohlfahrtsstaaten in vielen Belangen ähneln.
Umfragen zeigen, dass es dafür große Mehrheiten innerhalb der Bevölkerung gibt. Wir hätten außerdem eine andere Handelspolitik, die eher den Interessen der Arbeiter dienen würde, als jenen von Unternehmen. Außerdem wären die USA in einigen Belangen wohl konservativer – etwa was das Recht auf Abtreibung betrifft. Der Einfluss der Kirchen bzw. religiöser Gruppen wäre höher, es gäbe mehr öffentliche Förderung für sie oder auch Gebete vor dem Unterrichtsbeginn an öffentlichen Schulen", so Gilens.
Gilens und Page haben darüber hinaus die Einflussmacht diverser Interessensgruppen auf die US-Politik untersucht. Hinter diesen stehen mehrheitlich Unternehmen. "Der Großteil des Geldes, das aufgewendet wird, um in Washington zu lobbyieren, stammt von ihnen. Unsere Analyse zeigt: Der Einfluss der Unternehmenslobbies ist de facto doppelt so groß, wie jener von Gewerkschaften oder von anderen Organisationen, die den gewöhnlichen Bürger vertreten", so Gilens.
Geringe politische Responsivität auch in Deutschland
Responsivität heißt der wissenschaftliche Fachausdruck, der beschreibt, ob die Politik die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger auch tatsächlich umsetzt. Die geringe Responsivität des politischen Systems in den USA hat laut Martin Gilens einen Hauptgrund. Nämlich, dass die US-amerikanische Politik sehr stark von privaten Großspendern abhängig sei.
Die USA sind in Sachen Responsivitätsforschung federführend. In Deutschland werden erst seit kurzem umfassendere Arbeiten dazu veröffentlicht. Unter anderem vom Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung und der Universität Osnabrück. Ihre Ergebnisse ähneln jenen von Gilens und Page stark. Und das, obwohl die Parteien im Gegensatz zu den USA von der öffentlichen Hand finanziert werden.
Die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung eines politischen Vorhabens sinkt sogar, wenn mehr Menschen aus der untersten Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten.
In der Zusammenfassung der Anfang Jänner erschienen Studie mit dem Titel "Dem Deutschen Volke"? Die ungleiche Responsivität des Bundestags" halten die Forscherinnen und Forscher fest: "Unsere Auswertung zeigt, dass auch in Deutschland politische Entscheidungen stärker mit den Präferenzen höherer als mit denen unterer Einkommensgruppen übereinstimmen. Je größer die Meinungsunterschiede sind, desto ausgeprägter ist diese Schieflage."
Für die Studie wurden die politischen Präferenzen der unterschiedlichen Einkommensgruppen analysiert. Dazu haben die Forscher deren Antworten auf rund 250 Sachfragen angesehen, die seit den späten 1990ern abgefragt werden. In der Folge haben die Forscher eruiert, was davon der Deutsche Bundestag umgesetzt hat. In den Politikfeldern "Wirtschaft und Finanzen", "Arbeitsmarkt- & Sozialpolitik", sowie Außenpolitik sind die unterschiedlichen Präferenzen zwischen den Niedrig- und den Topverdienern und Topverdienerinnen besonders stark ausgeprägt.
Für Fragen, bei denen sich die unterste und die oberste Einkommensgruppe stark in ihren Meinungen unterscheiden, zeigt sich ein klarer Zusammenhang: In der obersten Einkommensgruppe ist die Zustimmung zu Politikänderungen stark positiv mit deren Umsetzung korreliert, in der untersten Einkommensgruppe negativ. Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit auf Umsetzung sogar sinkt, wenn mehr Menschen aus der untersten Einkommensgruppe eine bestimmte politische Entscheidung befürworten", schreiben die Forscher.
Das heißt: Was Bürgerinnen und Bürger mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.
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Ungleichheitsforscher haben in den vergangenen Jahren nachgewiesen, dass die ökonomische Ungleichheit innerhalb der westlichen Demokratien stark gewachsen ist.
"Befürchte einen Teufelskreis"
In den USA ist in den vergangenen zwanzig Jahren das Einkommen des obersten ein Prozent der US-amerikanischen Haushalte um 94,5 Prozent gestiegen. Das Einkommen der übrigen 99 Prozent der US-amerikanischen Haushalte hingegen um lediglich 14,3 Prozent.
Das bereitet dem Politologen und Responsovitätsforscher Martin Gilens Sorgen: "Ich befürchte, dass der ungleiche politische Einfluss die ökonomische Ungleichheit weiter verschärft. Und das dann wiederum den Einfluss der Reichen auf die Politik verstärkt. Ein Teufelskreis."
Was also tun? Martin Gilens glaubt, dass in den USA Parteien und Politik verstärkt durch die öffentliche Hand gefördert werden sollen. Auch gelte es, die traditionell hohen Wahlhürden abzubauen. In den USA wird derzeit an gewöhnlichen Wochentagen gewählt, an denen die Menschen arbeiten müssen und nicht an Sonntagen. Außerdem müssen sich Wählerinnen und Wähler vorab für die Wahl registrieren. Bis es eines Tages möglicherweise so weit ist, geht Martin Gilens jedenfalls weiterhin zur Wahl. "Es mag irrational sein, aber ich werde weiterhin wählen gehen."
Service
Bertelsmann Stiftung - Studie "Prekäre Wahlen"
Robert Vehrkamp
Martin Gilens
Studie: Preference Gaps and Inequality in Representation
Studie: "Dem Deutschen Volke"? Die ungleiche Responsivität des Bundestags"