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Literatur im Herbst
Milo Rau: "Der Politik nicht ausgeliefert"
Freiheit und Kontrolle, Ausbeutung im digitalisierten Kapitalismus, Populismus und neuer Faschismus - darum geht es heuer beim Festival Literatur im Herbst, das morgen im Wiener Odeon beginnt. Unter dem Titel "Dialektik der Befreiung" werden Autoren wie Pankaj Mishra, Ilija Trojanow und Colson Whitehead erwartet. Und als prominenter Eröffnungsredner: der Schweizer Theatermacher Milo Rau.
24. Dezember 2017, 02:00
Morgenjournal | 23 11 2017
Milo Rau holt die Zuschauer aus der Komfortzone der Theatersessel und konfrontiert sie mit der politischen und gesellschaftlichen Realität - etwa in "Hate Radio", einem Stück über den Genozid in Ruanda oder dem "Kongo-Tribunal", einem inszenierten Prozess um den Bürgerkrieg im Ostkongo. Zuletzt hat Milo Rau an der Berliner Schaubühne ein so genanntes "Weltparlament" einberufen, um Zukunftsfragen der Gesellschaft zu verhandeln.
Kulturjournal | 23 11 | Interview
"Es ist nicht so, dass wir der Politik ausgeliefert sind. Wir können sehr viel tun." Milo Rau im Gespräch über eine verhandelbare Zukunft, das "Weltparlament" und ein Gegengewicht zum katastrophalen Moment, an dem Menschheit und Planet angekommen sind.
Wo die Politik versagt, hilft die Kunst
Mit seinem radikal dokumentarischen Theater bringt Milo Rau die Krisen der Gegenwart auf den Punkt und auf die Bühne. Er will den Ungehörten, jenen, die keine Lobby haben, eine Stimme geben - unter dem Motto: "Wo die Politik versagt, hilft die Kunst." "Künstler, Intellektuelle und die Zivilgesellschaft müssen, ähnlich wie bei der Flüchtlingskrise, in die Bresche springen, wenn sich die Politik mit den großen, drängenden Fragen einfach nicht befasst", sagt Milo Rau. Frage Nummer 1: Wie können wir demokratisch, aus der Zivilgesellschaft heraus, die transnationale Welt organisieren?
Das Weltparlament
"Wir haben die Weltbank, die UNO, die großen Konzerne und so weiter, aber das alles ist nicht demokratisch legitimiert und hat oft sehr wenig damit zu tun, was die Leute in den jeweiligen Ländern wollen", meint der Theatermacher. Vor drei Wochen hat er "diese Leute" auf die Bühne geholt - zur konstituierenden Sitzung eines so genannten "Weltparlaments". Drei Tage lang haben an der Berliner Schaubühne Abgeordnete aus 20 Ländern - Wissenschaftler und Politikerinnen, Kulturschaffende und Aktivisten - über die Zukunft der Menschheit debattiert und Beschlüsse über Wirtschaft, Migration, Umwelt oder Kultur verabschiedet.
Utopie oder Alptraum?
Es gab Berichte von Ausbeutung und Unterdrückung, von der Zerstörung kurdischer Dörfer durch türkische Behörden und vom ungesühnten Marikana-Massaker, als Polizisten vor fünf Jahren in Südafrika 34 streikende Minenarbeiter erschossen. - "Das Weltparlament ist keine Utopie, sondern ein Alptraum", das war die Bilanz nach drei Tagen.
"Wir sind wirklich an einem katastrophalen Moment der Menschheitsgeschichte und der Geschichte des Planeten angekommen", meint Milo Rau, "dazu braucht es als Gegengewicht - frei nach Antonio Gramsci - den Optimismus des Willens, des Tuns, der Solidarität und des gemeinsamen Erarbeitens anderer Möglichkeiten - eine Rückeroberung der Zukunft."
Demokratisierung oder Chaos
"Rückeroberung der Zukunft", das ist auch der Titel von Milo Raus Eröffnungsvortrag zur "Literatur im Herbst". Angekündigt ist ein radikales Manifest und ein Appell für Menschlichkeit: "dass wir nicht mehr sagen, wir profitieren von dieser Globalisierung, weil wir durch den Zufall der Geburt in der Wohlstandszone leben, und wer durch Zufall anderswo geboren ist, der hat eben Pech gehabt. Das muss jetzt geändert werden und zwar im globalen Maßstab. Das ist auch möglich. Und es ist der Schritt, den unsere Generation jetzt tatsächlich gehen muss. Sonst wird es nach und nach zum Re-Import der Widersprüche kommen, die wir in die Dritte Welt exportiert haben. Wir haben die Wahl: Demokratisierung oder Chaos." - Das Weltparlament wird jedenfalls zu weiteren Sitzungen zusammenkommen.
Service
Ein Interview mit Milo Rau hören Sie im "Kulturjournal" (23.11., 17:09 Uhr), Odeon - Literatur im Herbst
IIPM - Das Weltparlament
Das Kongo-Tribunal
Die Zeit – Milo Rau: "Wir Europäer leben im Adelsstand"