ORF/JOSEPH SCHIMMER
Eine Erinnerung
Bewegte Radio-Tage in Österreich
Nach Jahren des Stillstands in der Entwicklung der Literatur- und Hörspielsendungen des ORF entstand Anfang der 1980er Jahre eine Art Aufbruchsstimmung.
23. Februar 2018, 09:33
Franz Hiesel, der viele Jahre als Hörspieldramaturg beim Bayerischen und dann beim Norddeutschen Rundfunk gearbeitet hatte, versuchte im Landesstudio Wien, die formale Enge und Begrenztheit der österreichischen Hörspieltradition zu überwinden. Günter Unger im Landesstudio Burgenland hat seinen Beitrag dazu mit den jährlich im Frühsommer veranstalteten Unterrabnitzer Hörspieltagen geleistet: In der Mühle des Hörspielautors Jan Rys wurden Hörspiele aus fast allen deutschsprachigen Rundfunkanstalten vorgestellt und von Autoren und Dramaturgen diskutiert.
Als Nachfolger von Alfred Holzinger im Landesstudio Steiermark habe ich mich bemüht, für formal ungewöhnliche, experimentelle und radikalere Literaturproduktionen und Hörspiele Sendeplätze auf Ö1 zu bekommen. Bei den Autoren, die sich mit dem Hörspiel als Gattung und mit den anderen Möglichkeiten der Radioliteratur auseinandersetzten, entstand so ein erweitertes Verständnis radiophoner Kunst. Sie stellten 1981 nach dem 1. Österreichischen Schriftstellerkongress in Wien selbstbewusster ihre Ansprüche an den ORF.
Neue Art der Rundfunkarbeit
Im Landesstudio Vorarlberg haben sich dort ansässige junge Autoren mit Leo Haffner, dem Leiter der Abteilung Literatur und Hörspiel, auf eine ganz neue Art der Rundfunkarbeit verständigt. Peter Klein und Michael Köhlmeier haben die klassische Bühnendramaturgie, die im literarischen Hörspiel entwickelten performativen Prosaformen und auch die balladesken und lyrischen Textgestaltungen verworfen. Sie brachen mit den produktionsästhetischen Konventionen des "Schönsprechens", verließen das Studio und gingen hinaus zu den Original-Schauplätzen ihrer Geschichten, nahmen das Medium Radio für ihre Art des Erzählens ernst.
Sie besannen sich dabei wohl auf den legendären "Krieg der Welten" von Orson Welles, der 1938 in den USA das Publikum in Panik versetzte, weil er das der Vermittlung von Wirklichkeit verpflichtete Reportage- und Nachrichtenmedium Radio zur Darstellung einer Science-Fiction-Geschichte benutzte. Klein und Köhlmeier haben die konventionellen Formen und Techniken der Informationssendungen des (Lokal-)Radios genau studiert und konsequent benutzt, um eine faszinierend berührende Parabel-Geschichte zu erzählen. Mit "March Movie" haben sie 1983 das erste gelungene Doku-Fiction-Hörspiel produziert.
Spannend, originelle Figuren, poetisches Flair
Die Vorarlberger Hörspielgruppe war ein Glücksfall für die österreichische Radiokultur. Schon mit ihrer ersten Produktion gelang ihnen ein Meisterwerk, was allerdings damals nicht alle Literatur- und Hörspielverantwortlichen in der Hörfunkdirektion so sahen. Mich begeisterte die Geschichte von der in Hohenems 1968 verschwundenen Blasmusikkapelle aus mehreren Gründen:
Sie war spannend und in allen Details perfekt erzählt, alle Mitwirkenden (von den beiden Autoren über Techniker und den befreundeten Wissenschaftler und Science-Fiction-Autor Christian Mähr bis hin zur Abteilungssekretärin Bernarda Gisinger) sind auf besondere Weise "originelle" Figuren des Spiels mit Phantasie und Wirklichkeit, alle Mittel der Reportage und des O-Tons (großartig die akustische Verfremdung der Marschmusik durch den Komponisten Gerold Amann) sind fehlerlos eingebunden in die Erzählstrategie.
Authentizität des Sprechens & medialen Erzählens
Hubert Dragaschnig (der einzige Schauspieler im Team) als Bahnwärter Oskar Zambanini setzte seine Begeisterung für die Arbeit am Hörspiel in eins mit der Begeisterung, mit der sein Zambanini nach der verschollenen Blasmusikkapelle suchte; mit seiner natürlichen Ausdruckskraft trug er am meisten zur emotionalisierenden Wirkung des Stücks bei. Literarische Anspielungen (zum Beispiel die Beschreibung der wiedergefundenen Blasmusiker als "Däumlinge", oder den Zambanini einen Bahnwärter sein zu lassen, wie Gerhard Hauptmanns Thiel einer ist) geben der Parabel ein besonderes poetisches Flair.
Und nicht zuletzt war und ist wohl immer noch das "Verschwinden" von jüdischen Musikern in der Nazizeit (nicht nur in Hohenems) im Bewusstsein der meisten Zuhörer verankert. Ich habe das Stück in meiner Medien-Lehrtätigkeit wohl an die hundert Mal als Beispiel für "Authentizität des Sprechens und des medialen Erzählens" vorgespielt - und jedes Mal sah ich zu Tränen gerührte Zuhörer.
"March Movie" ist das im gesamten deutschen Sprachraum erfolgreichste österreichische Hörspiel, es wurde von allen ARD-Anstalten übernommen und von den meisten wiederholt ausgestrahlt, und es fand auch bei der EBU-Hörspielkonferenz 1985 international Beachtung.
Weitere Arbeiten des Kollektivs
Die Autorengruppe hat noch mehrere Hörspiele in dieser Art produziert, zum Beispiel "Konrad", die Geschichte eines Wissenschaftsredakteurs, dem eine aus Langeweile oder Übermut erfundene Nachricht von einem Wundermittel zum Alptraum wird, "Das weiße Haus in Casablanca", die Geschichte einer Reisegruppe, die sich weigert, von einem Aufenthalt in Marokko zurückzukehren.
Bei der Produktion seines Monolog-Hörspiels "Das Kreuz von Hohenems" hat Michael Köhlmeier eine ähnlich wirkungsvolle Authentizität erreicht: Er ließ Hubert Dragaschnig den einmal auswendig gelernten Erinnerungstext nach Monaten aus der Erinnerung vor einem Mikrophon "wiederholen". Wichtig war in jener Zeit, dass der Erfolg von "March Movie" zu einer lange anhaltenden Belebung des Interesses am Hörspiel und zu einem Aufblühen der österreichischen Hörspielkultur geführt hat.
Als mich der damalige ORF-Generalintendant Gerd Bacher 1983 beauftragte, eine Modernisierung der Literatursendungen des ORF voranzubringen, gab mir die Kreativität der Vorarlberger Hörspielautoren entscheidende Anregungen für die neue Programmarbeit.
Text: Manfred Mixner