Spuren im Schnee

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Diagonal - Radio für ZeitgenossInnen

50 Wörter für Schnee

Die berühmten 50 Bezeichnungen für Schnee der Inuit - stimmt das eigentlich? Und was besagt die Sapir-Whorf-Hypothese?

Im Titelsong ihres 2011 erschienenen Konzeptalbums "50 Words for Snow" macht sich Kate Bush den Spaß, das Programm des immerhin achteinhalb Minuten dauernden Stücks penibel zu erfüllen: Mit unerschütterlichem Bassbariton arbeitet der britische Schauspieler, Autor und Tausendsassa Stephen Fry eine Liste von 50 Begriffen für Schnee ab, während er von der Sängerin zwischenzeitlich immer wieder ermuntert wird, ja nicht zu ermüden:

"Come on now, just 32 to go / Don’t you know it’s not just the Eskimo / Let me hear your 50 words for snow."

Schneeflocke

AFP/DPA/MATTHIAS HIEKEL

Bei den "50 words for snow" handelt es sich um real existierende Begriffe wie "Lawine", um erfundene, aber durchaus plausible Umschreibungen wie "Jägertraum" und "Knöchelbrecher", poetisierende Wendungen wie "schmelzender Schwan" oder "Bergesschluchzen" und um lautmalerische Wortneuschöpfungen wie "Whippocino“, "Boomerangablanca" oder "Zhivagodamarbletash".

Geboten wird hier nicht nur Popmusik, sondern auch etwas, was man als Pop Linguistics bezeichnen könnte. Mit dem Hinweis "Don’t you know it’s not just the Eskimo" spielt der Song nämlich auch auf eines der wirkungsmächtigsten sprachwissenschaftlichen Theoreme des 20. Jahrhunderts an, die so genannte Sapir-Whorf-Hypothese. Benannt ist sie nach den US-Sprachwissenschaftlern Edward Sapir und dessen Schüler Benjamin Lee Whorf, der die These nach dem Tod seines Lehrers ausgearbeitet hat. Im Wesentlichen variiert die Sapir-Whorf-Hypothese eine Einsicht, die bereits Ludwig Wittgenstein im berühmten Satz 5.6 seines "Tractatus logico-philosophicus" formuliert hatte: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."

Die Relativitätstheorie der Sprache

Whorf vertrat eine Art linguistischer Relativitätstheorie, die er aus der Analyse indianischer Sprachen ableitete. In seinem 1956 erschienenen Essay "Language, Thought and Reality", in dem er Untersuchungen des Anthropologen Franz Boas aufgriff, erklärte er den Sprachgebrauch der Eskimos wie folgt: "Wir haben nur ein Wort für fallenden Schnee, Schnee auf dem Boden, Schnee der zu eisartiger Masse zusammengedrückt ist, wässerigen Schnee, windgetriebenen, fliegenden Schnee usw. Für einen Eskimo wäre dieses allumfassende Wort nahezu undenkbar. Er würde sagen, fallender Schnee, wässriger Schnee etc. sind wahrnehmungsmäßig und verhaltensmäßig verschieden (…). Er benützt daher für sie und andere Arten von Schnee verschiedene Wörter."

Nun versteht es sich von selbst, dass Schnee für die indigenen Völker des nördlichen Polargebiets ein bedeutsameres Phänomen darstellt als für die in der Sahara beheimateten Tuareg und entsprechend scheint es nur logisch, dass das Vokabular eines Inuit oder Yupik in der Schneeabteilung reichhaltiger und differenzierter ist als im Wüstensand-Department. Soweit so banal. Der Sexappeal der Sapir-Whorf-These fusst aber auf der wesentlich stärkeren Annahme, dass Wortschatz und Grammatik einer Sprache vollständig bestimmten, was überhaupt wahrgenommen und gedacht werden kann.

Diese dogmatische Form eines Sprachdeterminismus war freilich schon zu jener Zeit widerlegt worden, als die Sapir-Whorf-Hypothese die Hochblüte ihrer Popularität erreichte. So erkannte der russisch-amerikanische Linguist Roman Jakobson bereits Ende der 50er-Jahre: "Sprachen unterscheiden sich hauptsächlich durch das, was sie vermitteln müssen, und nicht durch das, was sie vermitteln können." Abgesehen einmal davon, dass sich das Englische oder Deutsche keineswegs bloß auf das Wort "Schnee" beschränkt, sondern auch Begriffe wie "Firn", "Harsch", "Sulz-, Neu- oder Pulverschnee" kennt, verdankt sich die vermeintliche Wortvielfalt in den eskimo-aleutischen Sprachen einfach dem Umstand, dass diese anders funktionieren als unsere: Als so genannte "polysynthetische" Sprachen fassen sie unterschiedliche Bedeutungsebenen in einem einzigen komplexen Wort zusammen, wofür im Deutschen oder Englischen Adjektiva oder Relativsätze vonnöten sind. Aber selbstverständlich kennen auch die Völkerschaften zwischen Zermatt und dem Zillertal, "Schnee, den es am Bergkamm verweht hat", "Schnee, auf dem die Kufen des Schlitten picken bleiben" oder "Schnee, der gelb ist, weil ein Huskie hineingepinkelt hat".


In der dritten Staffel der grandiosen Sitcom "Malcolm in the Middle“ nimmt das schwarze Schaf der Familie, Francis, einen Holzfällerjob in Alaska an und versucht die Bedeutung eines Totempfahls zu enträtseln, den seine betrunkenen Kumpel einem Angehörigen der indigenen Bevölkerung gestohlen haben. Als der rechtmäßige Besitzer in die Hütte poltert, um ihn zurückzufordern, werden dabei nicht nur die ethnologischen Projektionen Francis’ über den Haufen geworden, sondern es wird auch die Sapir-Whorf-Hypothese widerlegt.

Text: Klaus Nüchtern