LINDA ZAHRA/ORF
Hörbilder
Wieder bei Null beginnen
"Ich musste wieder bei Null beginnen." Diesen Satz sagen alle fünf syrischen Frauen, die in Österreich ihren Neuanfang gemacht haben, im Lauf des Gesprächs. Wie sie sich von diesem Nullpunkt entfernen und was ihnen dabei geholfen hat, davon erzählen sie in dem Feature. Die Biografien der Frauen sind sehr unterschiedlich, aber was sie verbindet, ist die Erfahrung des Verlustes, der Flucht und dass der Bürgerkrieg in Syrien ihr Leben von Grund auf verändert hat.
6. November 2020, 10:05
Zur Sendung
Hörbilder | 07 11 2020
Rojin Ali
"Was hat mich motiviert? Ich habe mir gesagt: Moment. Stopp. Ich fange bei Null an - und das schaffe ich. Ich habe diese Chance bekommen, und ich muss sie einfach nutzen", sagt Rojin Ali. Sie ist syrische Kurdin, in Qamischli geboren. 2013 ist sie mit ihrem Sohn über die Familienzusammenführung nach Österreich gekommen. In Syrien hat sie Soziologie studiert und als Sozialberaterin an Schulen gearbeitet. Sie hat Mädchen beraten, die früh verheiratet werden sollten und deshalb von ihren Eltern aus der Schule genommen wurden. Viel hätte man nicht erreichen können, erzählt sie. In Syrien war die Idee der Sozialarbeit relativ neu. In Österreich lernt sie im Eiltempo Deutsch. Nach zwei Jahren hat sie eine Stelle bei der Caritas als Dolmetscherin und Sozialberaterin und seit Juni 2020 arbeitet sie bei der Diakonie-Frauenberatung. Rojin hat eine Methode für das Leben im neuen Land entwickelt: sich auf die Gegenwart konzentrieren, nicht in der Trauer gefangen bleiben und nicht die alte Heimat mit der neuen vergleichen. "Wenn man das jeden Tag vergleicht, dann kann man nicht gut ankommen. Man hat nur die halbe Kraft für das Leben hier, aber man braucht die ganze Kraft."
LINDA ZAHRA
Basma Jabr
Und man braucht auch Unterstützung. Basma Jabr hat in Syrien Architektur studiert und in einem Architekturbüro gearbeitet. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern flüchtet sie 2013 nach Österreich. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Österreich, schafft sie es, sich als Sängerin zu etablieren, ist Gastsolistin verschiedener Orchester, im Chameleon Orchestra zum Beispiel oder im Syrian Expat Philharmonic Orchestra und sie tritt oft mit dem syrischen Oud-Virtuosen Orwa Saleh auf. 2019 bringt sie mit ihm gemeinsam die CD "The songs we still remember" heraus. Saleh hat ihr geholfen, in der Musikszene Kontakte zu knüpfen. "Ich glaube, ich habe Glück," sagt sie. "Und mein Mann unterstützt mich, er passt auf die Kinder auf, wenn ich Konzerte gebe, auch meine Freunde unterstützen mich."
LINDA ZAHRA/ORF
Iman *
Man kann auch Kräfte in sich entdecken, die man vorher nicht wahrgenommen hat. "Ich habe nicht gewusst, dass ich diese Kraft und Stärke habe. Eine Woche vor der Flucht habe ich nicht mehr schlafen können, weil ich so aufgeregt war. Aber ich habe eine Kraft in mir entdeckt, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt." Das sagt Iman. Sie hat in Syrien maturiert, dann hat sie als Hausfrau zwei Söhne großgezogen. Von ihrem ersten Ehemann hat sie sich scheiden lassen. Als der zweite Ehemann nach dem Ausbruch der Revolution in Syrien ohne Angabe von Gründen verhaftet und ins Gefängnis gebracht wird, flüchtet Iman mit ihren beiden Söhnen (13 und 17 Jahre). Zuerst nach Libyen, dann nach Österreich. Ihr Leben im neuen Land fasst sie heute so zusammen: "Es ist ein schweres Leben. Ich habe Angst vor Morgen. Aber ich habe Hoffnung." Sie möchte hier eine Ausbildung zur Schneiderin oder zur Kindergärtnerin machen. 2019 findet sie eine Teilzeitarbeit als Bürokraft in einem Wiener Hotel und lernt für den B2 - Deutschkurs. "Die Deutschkurse geben mir Hoffnung. Auch, dass ich meine beiden Söhne bei mir haben kann." Der Ältere hat mittlerweile eine Arbeit als KFZ-Mechaniker. Der Jüngere hat in Österreich den Pflichtschulabschluss gemacht und eine Lehrstelle gefunden.
LINDA ZAHRA
Hadil *
Schritt für Schritt sich neu zusammensetzen: Hadil kommt aus einer wohlhabenden syrischen Familie, war Angestellte in einer privaten Versicherungsgesellschaft. 2014 ist sie geflüchtet. Ohne ihre vierjährige Tochter, die bei deren Vater, Hadils Ex-Mann geblieben ist. Hadil hofft damals, die Tochter über die Familienzusammenführung nach Österreich nachholen zu können. Auch sie lernt die deutsche Sprache erstaunlich schnell und hat ein Jahr, nachdem sie in Österreich angekommen ist, bereits eine Arbeit. Ist Sozialberaterin bei der ORS, einer Firma, die Asylsuchende für die Republik betreut. Sie kann eine kleine Wohnung mieten und 2017 ihre Tochter nachholen. Das alles hat viel Kraft gekostet und obwohl Hadil in kurzer Zeit viel geschafft hat, würde sie gerne die Jahre des Verlustes aus ihrem Leben löschen, wie sie sagt.
LINDA ZAHRA
Ihr Fazit: "Ich habe viel gelernt. Ich hab immer gedacht, dass das Leben so sein wird, wie ich es will. Aber der Krieg hat auf einmal alles geändert. Deshalb - man muss nicht so sehr an die Zukunft denken. Das Leben hat auch Macht und macht, was es will."
* Auf eigenen Wunsch wurde nicht der volle Name genannt.
Linda Zahra
Linda Zahra
Linda Zahra
2014 ist die Visagistin und Fotografin mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern zuerst in den Libanon geflüchtet, um in der Nähe des Landes zu bleiben, dann nach Österreich. In den sechs Jahren in Österreich hat Linda Zahra bereits an neun Ausstellungen und künstlerischen Projekten teilgenommen. Im Künstlerhaus Wien etwa, dessen Mitglied sie mittlerweile ist. 2016 hat sie für eine große Ausstellung am Wiener Hauptbahnhof syrische Frauen porträtiert, die in Österreich leben. Unter anderen - die Protagonistinnen dieses Features. Aktuell zeigt sie ihre fotografischen Arbeiten zu "Spuren und Masken der Flucht" in der Landesgalerie Niederösterreich. "Die Verluste im Leben können dazu führen, dass man nichts mehr macht und still steht. Wie in einer Schockstarre. Oder sie führen dazu, noch viel intensiver zu arbeiten, um die Verluste aufzuwiegen. Für mich gilt Letzteres."
Service
Landesgalerie Niederösterreich - Spuren und Masken der Flucht. Ausstellung mit Bildern von Linda Zahra
Kulturwoche.at - Kritik zur neuen CD von Nadia Baha