Frau hält Handy in der Hand, fotografiert Bühne

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Salzburger Nachtstudio

Plädoyer für eine neue Streitkultur

Zum ersten Mal begegnete mir der etwas hochtrabend klingende Begriff im Buch Diktatoren im Spiegel der Medizin des legendären Internisten Anton Neumayr: Adolf Hitler, so Neumayr, habe unter anderem an einer "Frustrationsintoleranz" gelitten, und schon von Kindheit an nicht mit Verlusten und Misserfolgen umgehen können. Daraus hätten sich dann jene Charaktereigenschaften Hitlers gespeist, die ihn zum so faulen, zögerlichen und entscheidungsschwachen wie brutalen Psychopathen werden ließen.

Martin Haidinger in der Tiefenunschärfe

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Seitdem beschäftigt mich das Phänomen der Frustrationsintoleranz; aber nicht so sehr im Zusammenhang mit toten Diktatoren, sondern mit höchst gegenwärtigen Zeitgenoss/innen. Wenn mittlerweile an US-amerikanischen Universitäten die Studienpläne an die Bedürfnisse hysterischer Studierender angepasst werden müssen, die sich von antiken Lehrinhalten wie den "traumatisierenden Botschaften" der Metamorphosen Ovids oder den Thesen Kants und Schopenhauers "offended" fühlen, manche angeblich liberale europäische Persönlichkeiten angesichts ihnen nicht genehmer Wahlergebnisse nach Denk- und Diskussionsverboten in wichtigen Gegenwartsfragen rufen, und allerorten statt Gesprächsrunden Wut- und Hassmärsche veranstaltet werden, ist etwas faul im Staate, oder besser gesagt in den Staaten!

Roland Girtler, Christine Bauer-Jelinek und Hans-Otto Thomashoff

Roland Girtler, Christine Bauer-Jelinek und Hans-Otto Thomashoff

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Wer so tut, als seien Politiker/innen wie Trump oder Merkel (je nach Standpunkt) "unerträglich", der hat nie in einem wirklich unerträglichen Land zu einer unerträglichen Zeit gelebt.

Nicht zufällig sprach man im Sommer 2018 beim Europäischen Forum Alpbach über Resilienz, also die erfolgreiche Verarbeitung von Krisen. Sie sei jenen anempfohlen, die sich nicht mit den obwaltenden Realitäten dieser Welt abfinden können und sich frustrationsintolerant in ihren elitären Blasen verkriechen, in randständigen Politzirkeln und digitalen Echokammern verharren, oder gar mit Pflastersteinchen um sich werfen.

Vielleicht hilft die Lektüre des Buches "Wir müssen reden. Warum wir eine neue Streitkultur brauchen" von ORF-Kollegin Susanne Schnabl, in dem sie schreibt: "Anstatt einer inhaltlich fundierten Auseinandersetzung regiert die reflexartige Ablehnung bis hin zur Diskussionsverweigerung. Nach diesem Muster verläuft die Debatte seit Jahren nicht nur hier in Österreich, sondern insbesondere in Deutschland, seitdem die AfD im Bundestag sitzt. Die einen wollen mit 'solchen Leuten' nicht einmal debattieren, woraufhin die anderen 'Ausgrenzung' rufen, und das Spiel beginnt wieder von vorne, ohne nennenswerten neuen Erkenntnisgewinn."

Dazu kommt noch, dass wir in der österreichischen Konsensdemokratie nach 1945 nie wirklich zu streiten gelernt haben. Das ist zwar noch immer besser als sich, wie in den Dreißigerjahren, gegenseitig den Schädel einzuschlagen, aber die Tatsache, dass hierzulande schon ein Kompromiss existiert, ehe noch Meinungen und Standpunkte artikuliert worden wären, ist nicht gerade der Humus, auf dem eine Streitkultur gedeihen kann.

Andererseits verplempern wir wichtige Zeit mit Skandalisierung und Dauerempörung, wo kühle Köpfe gefragt wären, um globale Probleme zu lösen.

Darüber diskutierten auf der "Buch Wien" die Autorin Susanne Schnabl, der Randgruppensoziologe Roland Girtler, die Psychotherapeutin Christine Bauer-Jelinek und der Psychoanalytiker Hans-Otto Thomashoff.

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Darüber diskutierten auf der "Buch Wien" der Randgruppensoziologe Roland Girtler, die Psychotherapeutin Christine Bauer-Jelinek und der Psychoanalytiker Hans-Otto Thomashoff. Eine Zusammenfassung ist am 14. November im Salzburger Nachtstudio um 21:01 Uhr zu hören.

Dieser Artikel enstammt der aktuellen Ausgabe des Ö1 Magazins "gehört".

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