Unruhen 1948 nach der Ermordung von Jorge Eliecer Gaitan

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Roman von Juan Gabriel Vasquez

"Die Gestalt der Ruinen" - Kolumbiens zähe Vergangenheit

Juan Gabriel Vasquez gilt als der bedeutendste Gegenwartsautor Kolumbiens und als Gewissen seines Landes. Sein neuer Roman "Die Gestalt der Ruinen" greift einen Mord auf, der, obwohl vor Jahrzehnten geschehen, noch immer als schwarzes Loch in der kolumbianischen Geschichte steht.

Mittagsjournal | 14 12 2018

Wolfgang Popp

Am 9. April 1948 wurde der liberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliecer Gaitan beim Verlassen seines Büros in Bogota mit vier Schüssen niedergestreckt. Von einem offensichtlich verwirrten Attentäter, der gleich darauf von der aufgebrachten Menge gelyncht wurde. Gaitans Anhänger machten die konservative Regierung für die Ermordung verantwortlich und Kolumbien versank deshalb in einem zehnjährigen Bürgerkrieg.

Juan Gabriel Vasquez: "Die Vergangenheit fasziniert mich in ihrer Komplexität. Und weil sie uns nicht loslässt, sondern unser Leben bestimmt und formt. Und besonders gilt das für die Ermordung Gaitans, weil sie in Kolumbien dieselbe symbolische Macht und Bedeutung besitzt wie die Kennedy-Ermordung in den USA."

Die makabre Reliquie

Anstoß für Vasquez‘ Roman "Die Gestalt der Ruinen" gab die Begegnung mit einem Arzt, die, auch wenn sie wie erfunden klingt, real stattgefunden hat. Der Mann hatte Vasquez letztes Buch gelesen, darin erfahren, dass er sich für Gaitans Ermordung interessiert, und ihn daraufhin angesprochen.

"Der Mann sagte: 'Ich besitze etwas, das nur sehr wenige Menschen gesehen haben', und nahm mich kurzerhand mit in sein Haus", so Juan Gabriel Vasquez, "und dort zeigte er mir ein Einmachglas, in dem in einer Formollösung der Wirbel Gaitans schwamm, mit dem Loch, das eine der Kugeln in den Knochen geschlagen hatte."

Ein Mord und seine Macht

Diese seltsame Begegnung fand zu einem einschneidenden Zeitpunkt in Vasquez' Leben statt, denn er war kurz zuvor Vater geworden. Juan Gabriel Vasquez: "Ich hatte dieses Präparat in der Hand und fuhr anschließend ins Krankenhaus, um meine neugeborenen Zwillinge in die Arme zu nehmen. Und da fragte ich mich, was für eine Verbindung zwischen diesen beiden Momenten bestand, oder konkreter: wie ich meine Töchter vor dieser Geschichte der Gewalt beschützen konnte. Welche Macht konnte dieser Mord aus dem Jahr 1948 auf sie ausüben? Das war die Frage, die am Anfang meines Romans stand."

Juan Gabriel Vasquez

AP/BERENICE BAUTISTA

Juan Gabriel Vasquez

Wuchernde Verschwörungstheorien

Juan Gabriel Vasquez verschmolz deshalb beim Schreiben sein Privatleben mit der politischen Geschichte seines Landes. Sein Ich-Erzähler gleichen Namens macht sich auf Spurensuche, versucht die ungeklärten Fragen rund um den jahrzehntealten Mord zu beantworten, findet dabei aber nicht nur auf Fakten, sondern auch einen Paranoiker, der ihn mit seinen Verschwörungstheorien rund um das Attentat überschwemmt.

Thriller, Autobiografie und Geschichte

Dass Vasquez nicht nur die Kritiker lieben, sondern auch Schriftstellerkollegen wie Jonathan Franzen bewundern, liegt wohl in dieser ungewöhnlichen Form seines Romans begründet, denn er schafft es in einer fast thrillerhaften Handlung seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit der kolumbianischen Geschichte unterzubringen. Juan Gabriel Vasquez: "Ich gehöre einer Generation an, deren Kindheit zwar relativ friedlich verlief, dafür standen unsere Jugend und die Jahre danach im Zeichen des Drogenkriegs und des Terrorismus von Pablo Escobar mit den ständigen Morden und Bombenattentaten. Die Zeit hat in meiner Generation tiefe Narben hinterlassen, weil jeder von uns damals böse Dinge erlebt oder sogar Angehörige verloren hat."

Man darf nicht Hemingways Diktum folgen und nur über die Dinge schreiben, die man kennt, sagte Juan Gabriel Vasquez in einem Interview, sondern muss sich umgekehrt mit dem befassen, was man nicht versteht. Und weil er das mit einer den Leser ansteckenden Neugier macht, legt man seinen neuen Roman "Die Gestalt der Ruinen" trotz seiner mehr als fünfhundert Seiten nur wenn’s gar nicht anders geht aus der Hand.

Service

Juan Gabriel Vasquez, "Die Gestalt der Ruinen", Roman, Schoeffling, Originaltitel: "La forma de las ruinas"

Gestaltung

  • Wolfgang Popp

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