Drei Menschen stehen zwischen zwei alten Häusern

INES PEDOTH

Hörbilder

Südtirol und die Jahre der Option

In ihren Liedern drücken Menschen oft das aus, was sie in ihrem Innersten beschäftigt. Eine einzigartige Sammlung von über 3.000 Volksliedern aus Südtirol dokumentiert die Sorgen, die Sehnsüchte und auch den Alltag des damals noch vorwiegend bäuerlichen Bergvolks auf eindrucksvolle Weise.

Entstanden ist die Sammlung zwischen 1940 und 1942, als der Musikwissenschaftler Alfred Quellmalz im Auftrag der nationalsozialistischen Forschungsgemeinschaft "Deutsches Ahnenerbe“ über 400 Magnetbänder aufgezeichnet hat. Es war der weltweit erste große Feldeinsatz einer neuen Schallaufnahmetechnik.

"Wenn in unserm Landl a fremde Fahne weht"

1919 wurde Südtirol Italien zugeschlagen. Es folgten für die Einheimischen schwere Jahre unter der faschistischen Diktatur. Das Gefühl dieser Zeit besingen sie in Liedern wie: "Wenn in unserm Landl a fremde Fahne weht", oder "Ob das Tirolerland zerrissen wird in zwei".

Die 94-jährige Anna Gius aus Bozen erinnert sich heute an ihre Volksschulzeit, in der deutschsprachiger Unterricht verboten war: "Wir sind halt dagesessen und haben gehorcht, verstanden haben wir logisch nichts. Bis sie uns schließlich mit Händen und Füßen gezeigt haben, was wir zu tun haben. So langsam, langsam ist etwas hängen geblieben und wir haben etwas verstanden."

Auf die Tiroler Identität verzichten

Die Situation spitzte sich Ende der 1930er Jahre zu, als die Südtiroler gezwungen wurden zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland zu wählen. 1939 hatten sich die Führer Adolf Hitler und Benito Mussolini darauf geeinigt, das Südtirol Problem ein für alle Mal durch die "Option" zu lösen: Wer weiter in der Heimat leben wollte, musste einwilligen, auf die deutsche Sprache und die Tiroler Identität zu verzichten. Alle anderen sollten ins Großdeutsche Reich Hitlers auswandern. Teils aus Verzweiflung, teils aus nationalsozialistischer Begeisterung stimmten über 80 Prozent für die Abwanderung.

Die deutschsprachige Bevölkerung entzweite sich: Freundschaften, Familien und ganze Dorfgemeinschaften zerbrachen. Theresia Sanin, 1930 in St. Pauls geboren, war das jüngste von 11 Kindern einer Bauernfamilie. Sie kann sich noch gut erinnern: "Die Fenster haben sie uns mit Steinen eingeschlagen, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Jede Seite war so überzeugt von ihrer Entscheidung: Wer in der Heimat bleiben wollte, so wie meine Familie, der galt als Verräter gegen das Deutsche. Doch wir wollten in der Heimat bleiben, um hier das Deutschtum zu bewahren, sonst wäre ja alles den Italienern geschenkt gewesen."

Eine Zeit, über die bis heute nicht gerne geredet wird

Viele der Südtirolerinnen und Südtiroler die auf Tonband aufgenommen wurden standen kurz davor, ihre alte Heimat aufzugeben. Die Magnetbänder geben nicht nur lebendig und authentisch Einblick in die Traditionen und den Alltag der Menschen vor über 70 Jahren, sie halten Südtirol auch einen Spiegel vor und dokumentieren eine Zeit, über die bis heute nicht gerne geredet wird.

Der 83-jährige Georg Dignös lebt seit der Auswanderung mit seinen Eltern in München. Das Geschehen in Südtirol hat er stets beobachtet – auch das Schweigen der Nachkriegsjahre: "Die Devise diese Dinge nicht anzusprechen, weil sich die alten Spannungen neu hätten entzünden können, das hat sich auf Dauer nicht durchsetzen lassen. Jetzt werden die Dinge so dargestellt wie sie wirklich waren."

Die Autorin Ines Pedoth ist in Südtirol aufgewachsen, arbeitet und lebt in Wien.