
AP/IGOR STEVANOVIC
Journal Panorama
Leben mit Autismus - Arbeit, Alltag, Aufbau
In Österreich leben Schätzungen zufolge über 80.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Autismus. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) spricht von einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Betroffene schildern ihren Autismus hingegen als eine andere Art von Wahrnehmung - denn Filter, die uns im Alltag vor Reizüberflutung schützen, sind bei Autistinnen und Autisten meist nur schwach ausgeprägt. Der Weltautismustag am 2. April rückt die vielfältigen Bedürfnisse von Autisten und Autistinnen in den Fokus.
30. April 2019, 02:00
Autismusspektrum statt Begriffswirrwarr
Experten sprechen von einem Autismusspektrum. Die Bandbreite reicht von Menschen mit Lernschwierigkeiten bis zu hoch intelligenten Menschen mit Spezialkenntnissen. Es gibt häufig auftretende Muster: Schwierigkeiten in sozialer Kommunikation und Interaktion und ein besonders hohes Bedürfnis nach Beständigkeit im Alltag mit wiederkehrenden Ritualen.
Viele autistische Kinder suchen wenig Kontakt zu anderen, Blickkontakt aufzunehmen fällt oft schwer, ebenso wie Mimik und Gestik des Gegenübers zu interpretieren.
Das Gefühl nicht verstanden zu werden, kann zu Aggressionen gegenüber anderen oder sich selbst führen.
Noch gibt es eine Unterteilung in Typen, etwa in frühkindlichen und Asperger Autismus. Diese Trennung wird verschwinden, künftig wird in Fachkreisen nur noch vom Autismusspektrum die Rede sein, sagt Psychologin Sonja Metzler, Leiterin des Diagnostik- und Therapiezentrums der Österreichischen Autistenhilfe.
Bei frühkindlichem Autismus ist die Sprachentwicklung auffällig verzögert, einige sprechen gar nicht. Ein Großteil der Kinder mit frühkindlichem Autismus hat kognitive Beeinträchtigungen. Asperger-Autisten können sich hingegen sprachlich meist schon sehr früh gewählt ausdrücken, aber auch sie tun sich schwer, soziale Signale zu interpretieren. Ironie und Sarkasmus erkennen sie oft nicht, sie sind aber Expert/innen bei ihren Spezialinteressen.
Hauptursache Genetik
Der Begriff Autismus wird vom griechischen Wortstamm autos, selbst, abgeleitet. Autismus lässt sich nicht auf eine einzige klare Ursache zurückführen: Jüngsten Forschungen zufolge dürften vor allem genetische Faktoren - auch in Kombination mit Umwelteinflüssen - eine Rolle spielen. Studien belegen: Die Masern-Mumps-Rötel-Impfung führt nicht zu Autismus. Generell sind Buben häufiger betroffen als Mädchen. Neuere Studien gehen von einem Verhältnis von circa 2-3:1 zugunsten des männlichen Geschlechts aus, sagt die Medizinerin Luise Poustka, Direktorin der Klinik für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen. Einige Wissenschaftler glauben, dass Mädchen und Frauen häufiger unerkannt bleiben und deshalb zum Teil später diagnostiziert werden.
Therapieren statt heilen
Die Wahl des richtigen Therapieansatzes ist unter Experten und Betroffenen durchaus umstritten. Bekannt sind etwa Verhaltenstherapien wie ABA oder das pädagogische Konzept Teacch. In den Therapien wird viel mit Visualisierung gearbeitet. "Man versucht, Ziele in ganz kleinen Schritten zu erreichen, individuell auf das Kind abgestimmt.", sagt Metzler. Auch am Sozialverhalten wird gearbeitet. Ihr geht es darum, Betroffenen ein Handwerkszeug für den Alltag mitzugeben, sie aber keineswegs anders zu machen. Auch für die klinische und Gesundheitspsychologin Elvira Muchitsch ist es wichtig, die Vorlieben von Autisten und Autistinnen in die Therapie miteinzubeziehen und sie Schritt für Schritt an unsere Strukturen heranzuführen. Für sie ist Autismus eine eigene Kultur, die man lernen muss.

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Föderalistischer Fleckerlteppich
Generell sind Unterstützungsangebote für Menschen mit Autismus in Österreich je nach Bundesland sehr unterschiedlich, etwa was Zuschüsse für Therapien oder die Förderung für Fachassistenz an Kindergärten und Schulen angeht. Fachassistent/innen sind so etwas wie Dolmetscher für das Sozialverhalten und vermitteln in Krisensituationen.
In Österreich entstanden und entstehen laufend neue Angebote: So hat die Diakonie de la Tour in Klagenfurt im Sommer 2018 die kostenlose Beratungsstelle "Mias" für Menschen mit Asperger-Syndrom gestartet. Die Autistenhilfe Tirol plant eine Beratungsstelle zu eröffnen, es soll auch ein Kompetenzzentrum mit Therapieangeboten entstehen. Zurzeit findet zum zweiten Mal an der privaten Universität UMIT in Hall in Tirol ein berufsbegleitender Lehrgang für die Begleitung von Menschen mit Autismus statt. Auch in Salzburg hat sich 2018 einiges getan: So eröffnete ein psychosoziales Versorgungs- und Beratungszentrum in Salzburg Stadt und es gibt eine neue intensivierte Autismus-Therapie am Lebenshilfe-Ambulatorium.
Je früher, desto besser
Das Autismuszentrum Sonnenschein befindet sich noch in den Räumlichkeiten des dortigen Ambulatoriums. Im Herbst bekommt es ein neues Zuhause. Im Autistenzentrum erfolgt das umfangreiche Diagnostikverfahren. Je früher Therapien ansetzen, desto besser, ist die ärztliche Leiterin Sonja Gobara überzeugt. Bis zu drei Stunden pro Woche Therapie erhalten vor allem Kleinkinder mit Autismus. Auch die Eltern sind ein wichtiger Faktor, da sie mit dem Kind in der Therapie Gelerntes zuhause üben können. Ziel ist es, Kommunikation, Sprache und soziale Interaktion zu fördern.
Struktur schafft Perspektiven
Vincent Safai ist 19 Jahre alt und Autist. In der Produktionsschule Star von Jugend am Werk lernt er, wie andere Jugendliche, verschiedene Berufsbilder kennen. Aktuell ist er im Elektronik-Modul. Er hat von Kindheit an Therapien besucht, kann seinen Alltag nun besser strukturieren. Was braucht der 19-Jährige, um sich in der Arbeitswelt wohlzufühlen? "Ich brauche manchmal eine kleine Struktur, die mir hilft, weiterzukommen und jemanden, der mir den Tag gut erklären kann.", sagt er. Psychologin Raphaela Rainer unterstützt ihn auch dabei berufliche Perspektiven zu entwickeln.
Hohe Arbeitslosigkeit trotz Spezialkenntnissen
Das dänische Unternehmen Specialisterne, zu Deutsch "Die Spezialisten" gibt es seit 2011 auch in Österreich. Es unterstützt Asperger-Autisten und Autistinnen dabei, einen Arbeitsplatz zu finden.
Autisten können sich oft schlecht vermarkten, sagt Geschäftsführer Kuno Gruber. Er unterstreicht die Stärken seiner Klientel. "Detailgenauigkeit, das Fordern von Strukturen und ein hoher Perfektionsgrad." Specialisterne schult nicht nur Bewerber/innen, sondern auch die Unternehmen, die sie aufnehmen.
Wohnen für Autisten - begleiten statt betreuen
Auch im Bereich Wohnen hat sich für Menschen mit Autismus einiges getan. Früher waren Betroffene häufig in großen Wohnhäusern untergebracht, neuerdings setzen Träger auf kleinere Wohneinheiten. In Oberösterreich entstanden im Jahr 2018 zwei Wohnhäuser. Am Hof Altenberg bei Linz leben 16 Menschen mit Behinderung, darunter fünf Autisten und eine Autistin.
Service
Marlies Hübner, "Verschwörungstheorien: Die Memoiren einer Autistin gefunden in der Badewanne", Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2016
Mirco von Juterczenka, "Wir Wochenendrebellen: Ein ganz besonderer Junge und sein Vater auf Stadiontour durch Europa", Benevento, 2018
Edith Sheffer und Stephan Gebauer, "Die Geburt des Autismus im Dritten Reich", Campus Verlag, 2018
Tony Atwood, "Das Asperger-Syndrom", Trias Verlag, 2005
Daniela Schreiter, "Die Abenteuer von Autistic Hero-Girl", Panini Verlags GmbH, 2017
Österreichische Austistenhilfe
Autistenhilfe Tirol
Autistenzentrum Arche Noah
Specialisterne
Autistenzentrum Sonnenschein
Beratungsstelle MIAS in Kärnten
Social Play Technologies - TU-Projekt
Autismus-Lehrgang an der UMIT
Autismus-Kulur - Blog
Marlies Hübner - Blog