Buch des Monats

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Mai

Raffaella Romagnolo: "Bella Ciao"

Lüge, Verrat, Rache und Versöhnung - das sind die wesentlichen Zutaten für eine Literatur, die wirken möchte, mehr oder weniger unterhaltend, aufwühlend, gedankenverändernd. Die italienische Autorin Raffaella Romagnolo hat einen dieser Romane geschrieben, die konzeptuell an diese alles-oder-nichts-Erzählkunst des 19. Jahrhunderts anschließen.

Einen Roman, der Techniken der Moderne und Postmoderne außer Acht lässt, und der dennoch frei von Altertümelei und falschem Pathos ist. Das muss man erst einmal zustande bringen.

Ex libris | 28 04 2019

Peter Zimmerman

Im Original heißt der im vergangenen Jahr in Italien erschienene Roman "Destino", also Schicksal. Der Diogenes Verlag hat daraus "Bella Ciao" gemacht, was einigermaßen befremdlich ist, denn dieses Buch hat gar nichts mit Italienklischees zu tun, und auch die gegen die Faschisten kämpfenden Partisanen mit ihrem Kampflied "Bella Ciao" stehen nicht im Zentrum der Geschichte. Aber abgesehen vom deutschen Titel ist "Bella Ciao" ein großartiger Roman über Italien und die italienische Diaspora in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ein Passions- und Befreiungsdrama

Ausgangspunkt ist ein Liebesverrat. Im kleinen piemontesischen Ort Borgo di Dentro, der, wie viele Orte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, nicht nur in Italien, geprägt ist vom asymmetrischen Verhältnis einiger weniger Besitzer zur besitzlosen und bildungsfreien Bevölkerung, buhlen zwei beste Freundinnen um einen Mann. Die eine, Giulia, bekommt ihn, die andere, Anita, spannt ihn ihr kurz vor der Hochzeit aus.

So weit, so heimatromankompatibel. Doch die noch minderjährige und bereits schwangere Giulia macht sich zu Fuß auf den Weg nach Genua, um mit ihren Ersparnissen ein Schiff nach New York zu besteigen. Was nun folgt, ist die exemplarische Geschichte von Heimat und Exil, eine virtuose Verzahnung von Passions- und Befreiungsdrama, wobei die Protagonistinnen aber nie zu Heldinnen stilisiert werden.

Das Leben abschreiben

Überhaupt erzählt Raffaella Romagnolo ihre Geschichte von den menschlichen Verlusten in zwei Kriegen, von Faschismus und Untergrundkampf, von Naturkatastrophen, Gewalt und Verrat auf der einen Seite und einer von Glück und Menschlichkeit begünstigten Aufsteigergeschichte auf der anderen ganz unaufgeregt und ohne Überhöhung der Effekte. Sie verlässt sich darauf, dass Menschen eben sind wie sie sind, ängstlich, feige, hinterlistig, opportunistisch, naiv, manchmal aber auch mutig und vertrauenserweckend.

Es sind immer die äußeren Verhältnisse, die Entscheidungen verlangen und den Charakter offenlegen. Das ist eine Grundkonstante der menschlichen Existenz. In den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts gab es viele Gelegenheiten, den Charakter zu offenbaren, da muss man nichts erfinden, man braucht nur das Leben abzuschreiben. Was schwer genug ist. Raffaella Romagnolo hat es ziemlich gut hinbekommen.

Service

Raffaella Romagnolo, "Bella Ciao", aus dem Italienischen von Maja Pflug, Diogenes Verlag
Originaltitel: "Destino", Rizzoli