"Du oder Ich" von Maria Lassnig

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Ö1 Kunstgeschichten

Petra Ganglbauer über ein Bild von Maria Lassnig

Petra Ganglbauer widmet ihren Text Maria Lassnigs bekanntem Bild "Du oder Ich". Die 2014 verstorbene Kärntner Künstlerin zeigt in diesem Werk völlig unverhüllt das eigene Altern und die Angst davor. Die von Edith-Ulla Gasser kuratierte Erstveröffentlichungsreihe "Ö1 Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren.

"Du oder Ich", Öl auf Leinwand, 2005. Schon der Titel dieses Werks von Maria Lassnig impliziert die ganze Radikalität menschlicher Existenz. Obgleich die Künstlerin einmal anmerkte: "Es gibt zu wenig Wörter, deshalb zeichne ich ja."

Wenige Worte nur habe ich persönlich mit Maria Lassnig getauscht, in ihren letzten Jahren, als die Künstlerin im Atelier in der Gurkgasse im 14. Wiener Gemeindebezirk malte und ich in der Gurkgasse schrieb. Freilich nicht im selben Haus. Wir trafen uns, ohne uns gut zu kennen, meist beim nahen Lebensmittelmarkt, und dies rein zufällig. Ein kurzes freundliches "Guten Tag" genügte uns.

Petra Ganglbauer

MARKO LIPUS

Petra Ganglbauer, Jahrgang 1958, ist Autorin, Radiokünstlerin und Schreibpädagogin. Sie lebt in Wien und im Burgenland. "Was mich an Kunst jeglicher Art besonders herausfordert, ist das Expressive, Dramatische, Aufreibende, Verstörende. Spracharbeit sollte meiner Meinung nach stets formal analog zum Thema, zum Inhalt vor sich gehen. Deshalb versuche ich in meinem Text zu Lassnigs Werk 'Du oder Ich' die emotionale Bewegtheit, das Aufrührende, Provokative ganz direkt zu spiegeln." (Petra Ganglbauer)

Das Bild schreit tonlos, wortlos. Oder besser das Gesicht der Frau, die Arme, die gespreizten Beine, der Rumpf, die Brüste, das Geschlecht - alles schreit still vor sich hin. Mittels Farbe, mittels Pinselstrich.

Das Bild pulsiert, rückt ganz nah. Die nackte Frauengestalt setzt sich in Szene. Im Leben wie im Tod. Und im Dazwischen. Die Frau, die sich einen Revolver an ihre linke Schläfe drückt und mit der rechten Hand uns, die wir das Bild betrachten, mit einem zweiten Revolver droht. Der Finger am Abzug. Mitten ins Gesicht, mitten ins Auge des Betrachters. Mit jedem Atemzug finden wir uns also an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod.

Das Leben: Ich. Der Tod: Du. Oder umgekehrt. Du oder ich. Also. Und zwischen beiden, zwischen uns beiden diese Spannung. Dazwischen auch die eine Frage: Wer geht, wer bleibt?

Die Szene signalisiert ein "Kurz-Davor" oder ein "Noch-Nicht". Das Bild lässt uns allein mit unserer Angst, mit der zeitlichen Begrenztheit unseres Lebens, denn Maria Lassnig trifft in jedem Fall. Sie trifft uns, indem sie uns die ganze Bedrohtheit menschlichen Daseins spiegelt. Auch das Altern. Jedoch das Altern als Revolte.

Eben erst geboren, aus dem wässrigen Blau, dem Sonnengelb des angedeuteten Bildhintergrunds, das Licht noch irgendwo als schmaler Streifen im Gedächtnis, sehen sich der sich aufbäumende, wehrhafte Geist der Frau und mit ihm der sich selbst dramatisierende Körper mit der Endlichkeit konfrontiert. Sie, jene Frau, die das Gesicht der Künstlerin trägt - wie so oft in Lassnigs Werk - sitzt an einer Schnittstelle. Am Grat. Diesseits und jenseits einer Konfrontation. Der allerletzten Auseinandersetzung.

Die Beine also gegrätscht und alles nackt. Das Geschlecht bloßgelegt, ganz selbstverständlich, fast entspannt, als ob sie bei gutem Wetter im Sommer auf einem Strandtuch säße. Und dennoch: der rechte Oberschenkel mächtiger, die Muskeln hervorgehoben, das rechte Knie wie eine Beule, die rechte Körperseite fordert uns heraus, ist bereit sich zu stellen, bereit aufs Ganze zu gehen!

Ganz anders der linke Oberschenkel: der ist weitaus zarter, schmäler, kaum eine Andeutung von Muskelgewebe. Als ob die linke Seite des Unterleibs schwände, sich zurückzöge, versteckte. Als ob, ja als ob die linke Körperhälfte der rechten die Oberhand ließe. Es ist jene Körperseite, deren Hand auch den einen Revolver führt, der auf der linken Schläfe ruht. Ein pastoser Pinselstrich in Hautfarbe jedoch stärkt die linke Körperhälfte, erweitert den Radius des Beckens, der linken Hüfte.

Jedoch ist der ganze Körper nach unten gerückt auf dem Grau-Weiß der Leinwand. Die Unterschenkel fehlen, die Füße. Sitzt sie? Hängt sie in der Luft? Ist ein Teil des Körpers bereits im Blau des Wassers untergegangen? Und die Haare. Keine Haare!
Fast ein Torso! Schon ein Torso!

Kirstin Schwab

FELIX DIETLINGER

Kirstin Schwab wurde 1967 in Graz geboren, wo sie ihre Ausbildung zur Schauspielerin absolvierte. Es folgten Engagements an verschiedenen Bühnen im deutschsprachigen Raum. Als multimediale Künstlerin arbeitet die Sprecherin dieser "Ö1 Kunstgeschichte" auch selbst genreübergreifend in den Bereichen Malerei, Fotografie und Literatur.

Der wasserblaue Hintergrund weitet sich aus, nimmt die weibliche, zerbrechliche Seite auf, umspült sie, kühlt sie:
Wasser des Lebens. Alles ist im Fließen begriffen, auch wenn der Augenblick des Anhaltens gekommen ist. Auch wenn es STOP heißt. Und GO! STOP and GO. Was also? Was jetzt?

Vielleicht aber ist die Seele der Frau längst woanders, ihre Gedanken fernab der Realität, so expressiv lebendig die Inszenierung auch sein mag. Und sie, die alte Frau, weiß gar nichts (mehr) von diesem Kampf.

Vielleicht also ist die an die Schläfe gehaltene Waffe eine Einbildung, eine Angewohnheit oder Obsession? Dann wäre die linke Köperseite in einen Traum verwoben, während die rechte wehrhaft im Irdischen ankert.

Unaufdringlich waren unsere Begegnungen im Lebensmittelmarkt jedes Mal, ein Blicktausch ohne große Worte, ein stilles Einverständnis.

Wir starren jetzt auf den Lauf des Revolvers, der auf uns gerichtet ist. Er ist weitaus schwärzer als jener an der Schläfe. Ein dunkles Loch scheint uns zu verschlingen, es hat etwas Suggestives, fast Manipulatives. Wer geht, wer bleibt? Aus welcher der beiden Waffen löst sich der Schuss zuerst?
Der rechte Arm in großer Anspannung, zielgerichtet, das rechte Auge fokussiert!

Das Gesicht ein Ort des Entsetzens, der Aufregung, jedoch auch der Entrücktheit. Vogelfrei. Der Mund geöffnet, nein, nicht um zu staunen, sondern um den Eindruck des augenblicklichen Geschehens wie des Erinnerns irgendwo einzulassen. Wenn schon nicht bewusst, wenn schon nicht über Kommunikation. Oder doch? Über die Mimik, die Gestik. Ein stiller Schrei. Ein unendlicher, ein unendlich stiller Schrei in einem Augenblick.

Das Gesicht der Künstlerin, ist auf vielen Bildern zu sehen, ist konstituierendes Element in ihrem Werk. Das Selbstporträt als Leitmotiv. Dennoch ging es Maria Lassnig niemals um bloßes Offenlegen. "To veil and reveil my face", so die Künstlerin im Film "Selfportrait", einem Animationsfilm aus dem Jahre 1971.

Das Porträt eines seelischen Zustands, der verdeckt und zugleich aufs Expressivste dargestellt wird. Die Seele als Geheimnis, das der Körper zwar überhöht, verzerrt, dramatisiert, aber nicht aufdeckt. Wir kennen das. Nicht ganz genau so. Aber doch. Diese Spiegelfunktion von Bildern, von Texten, von Musik. Letztlich sind immer wir es, die daraus sprechen, zu uns, indem wir als Resonanzkörper fungieren.

Wir setzen mit Hilfe unserer Wahrnehmung die Elemente, die Teile, einem Puzzle gleich zusammen, stellen uns der Entblößung so mancher Figur im Werk der Künstlerin. Es ist eine kühle Nacktheit, besser noch: eine kalkulierte Nacktheit.

Das Gesicht also. Nochmals. Das Gesicht. Markant. Mit hohen Wangenknochen. Mit scharf gezeichneter Nase. Frontal. Haarlos. Beinahe. Oder vielmehr das Haar als Pinselstrich, der den Kopf begrenzt. Gegen die Umwelt abschirmt. Einen Schlussstrich zieht! Im Genick dieses wässrige Blau, ein Hauch von lichtem Gelb und Gelbgrün.
Gelbgrün: Ins Ungewisse, als Lockstoff im Jetzt!
Gelb: Bekenntnisse wie Gedächtnisnarben!
Blau, dieses Blau: Ins nächste Verlangen hinein, ein Weg, ein Sog,
ein Untergang.

Das Gesicht. Eine Schönheit, die aus Entsetzen resultiert. Oder Trotz.
Das rechte Auge macht sich frei, blickt weit über uns hinaus, so als ob das Leben oder Sterben egal wäre. Das linke Auge wie gebannt, verharrend. Ah und oh. Oh weh. Weh mir.

Die Bilder von Maria Lassnig erfahren durch die Wichtigkeit, welche sie generell den Augen, dem Blick zumisst, eine potenzierte visuelle Qualität. Nicht nur wir betrachten die Bilder. Auf (besser aus) den meisten Bildern wird ebenso betrachtet, geschaut, gestarrt!

Das letzte Mal, als ich Maria Lassnig im Lebensmittelmarkt sah, ging sie mit Rollator. An ihrer Seite eine Betreuerin. Sie schien in sich gekehrt, auf sich bezogen. Wann genau das war, kann ich nicht mehr sagen.

Du oder ich:
Wer aber ist das Du?
Ist es tatsächlich der Tod, die Endlichkeit?
Oder eben das Leben?
Ist es eine Liebe?
Die größte?
Ist es ein Mann oder eine Frau?
Ist es das Ich im Ich?
Führt das Ich ein Zwiegespräch?
Ist es der destruktive oder konstruktive Teil des Ichs?

Wer also gegen wen?
Wer will da wen vernichten?
Oder wer will vor dem anderen gehen?
Will einer den anderen vor dem Abgang retten und sich an seiner Stelle selbst opfern?
Wer will nicht betrachtet werden?
Wer will nicht mehr leben, nicht mehr sterben?
Noch nicht leben, noch nicht sterben?
Wer aber wer ist das Ich?
Bin ich es, die Betrachterin?

Ist es das Bild, das uns anspricht - einem Appell gleich?
Ist es das Bild, das die Wirklichkeit provoziert?
Ist es die Künstlerin, die mit uns spielt, indem sie uns herausfordert?
Wer von uns beiden, Maria Lassnig - durch das Bild sprechend - oder ich - das Erblickte hörend - ist gemeint?
Wer ist wer?
Subjekt und Objekt sind verschoben, tauschen sich aus, verkehren sich.
Das vermeintliche Objekt wird zum Subjekt. Die Dinge um uns starren uns ebenso an, wie wir sie.
Wir sind im Blickfeld, auch wenn wir Betrachter sind.
Wir sind in steter Interaktion.
Alles andere wäre augenlos, bilderlos, gedankenlos.
Und sprachlos.

"Wenn man nichts sagt, glauben sie, man hätte nichts zu sagen."
So die Künstlerin. Lassnigs Bilder sind Wörter, Sätze, Textfragmente, Dramen, Gedichte. Sie erzählen in jedem Fall vom Menschsein, von Irrläufen, von Angst, Körperverfall, Schrecken, Bedrohung, Wut und Gewalt. Oft spiegeln die menschlichen Figuren oder Teilfiguren etwas Animalisches, Triebhaftes oder Lasterhaftes. Jedes der Bilder kann auf die eine Art gelesen werden - oder aber auch auf eine ganz andere. Es sind die Posen, die Körperschnitte, die Blicke, die aufwühlen. Man könnte beinahe von "Suspense" sprechen, das Leben als Kriminalakt. Zugleich ist das Werk Maria Lassnigs subversiv, es hinterlässt Narben, Spuren, Markierungen in uns. Vielleicht aber sind wir schon immer vernarbt, und Lassnigs Werk spiegelt gekonnt unsere Wunden.

Der sich vehement inszenierende, alternde weibliche Körper zieht das Auge an, sodass kein Wegschauen möglich ist. Kein Ignorieren. Kein Verdrängen. Ich empfinde eine Spannung, die nur durch das Bild, das ich betrachte, hervorgerufen wird.

So sehr auch die Künstlerin uns mit dem Alter, der Vergänglichkeit konfrontiert, so kraftspendend war das Malen für sie selbst: "Es ist die Kunst, jaja, die macht mich immer jünger, sie macht den Geist erst hungrig und dann satt..." So singt Lassnig in ihrem Film "Kantate", den sie im Alter von bereits 73 Jahren fertigte. Viele Jahre intensiver künstlerischer Arbeit waren dem vorausgegangen, mit Anstrengungen, Frustrationen, aber auch Lust verbunden. Erst im Alter von 61 Jahren erhält Lassnig eine Professur für Malerei an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. In ihrer Meisterklasse für experimentelles Gestalten entsteht 1981 das erste und damals einzige Lehrstudio für experimentellen Trickfilm in Österreich.

Die ihr gebührende öffentliche Anerkennung setzte also spät ein. Ein exemplarisches Künstlerinnenschicksal. Maria Lassnig, sich der jahrzehntelangen Ignoranz ihrer Arbeit gegenüber bewusst, reagierte auf den so spät einsetzenden Erfolg kritisch: "Man hat mich so lange unterbewertet, dass ich die jetzige Bewertung gar nicht bewerten kann."

Maria Lassnig wäre am 8. September 2019 hundert Jahre alt geworden. Wenn ich jetzt den Lebensmittelmarkt besuche, kann ich nicht umhin, manchmal nach ihr Ausschau zu halten.

Redaktion: Ilse Amenitsch

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