ASSOCIATED PRESS
Im Gespräch
Patrick Deneen - "Warum der Liberalismus gescheitert ist"
"Die westliche Zivilisation hat fast alles von sich selbst vergessen!" - Renata Schmidtkunz im Gespräch mit dem amerikanischen Politikwissenschafter Patrick Deneen
13. Oktober 2019, 02:00
In seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch "Warum der Liberalismus gescheitert ist" erläutert Deneen, dass der Liberalismus gescheitert ist, weil er gesiegt hat.
"Er war angetreten für größere Gleichheit, für kulturellen Pluralismus, den Schutz der menschlichen Würde und die Erweiterung der Freiheit. In Wahrheit hat er nun zu titanischer Ungleichheit geführt, zu materiellem und geistigem Verfall und der Unterhöhlung der Freiheit", schreibt Deneen, geboren 1964, Professor für Verfassungsgeschichte an der Universität Notre Dame in Indiana.
Im Gespräch mit Renata Schmidtkunz ist er überzeugt, dass die Antwort auf die tiefe Krise, in der unsere Gesellschaften sich befinden, nicht durch noch mehr Liberalismus behoben werden kann.
Patrick Deneen im Gespräch mit Renata Schmidtkunz
Hier hören Sie Patrick Deneen im englischen Original, die deutsche Übersetzung finden Sie im Anschluss
Renata Schmidtkunz:
Patrick Deneen, herzlich willkommen! Wir sitzen hier im Landesstudio in Salzburg und werden hier unser Gespräch führen - über ihr Ende Juli erschienenes Buch „Warum der Liberalismus gescheitert ist“, auf Deutsch. Auf Englisch heißt ihr Buch: "Why liberalism failed". Es ist in Amerika 2018 erschienen und hat einen umwerfenden Erfolg. Von New York Times bis zu dem Dekan der Universität von Oklahoma, alle haben sich zu diesem Buch geäußert. Und Sie sagen, es ist ein wichtiges Buch für Amerika. Es formuliere eine radikale Kritik an der Moderne. Und ich würde ergänzen: an der amerikanischen Moderne. Patrick Deneen, haben Sie denn damit gerechnet, dass das Buch so erfolgreich sein würde?
Patrick Deneen:
Ich habe nicht erwartet, dass dieses Buch so viel Aufmerksamkeit erfahren würde. Ich dachte zwar, dass es in meinen akademischen Zirkeln, in der politischen Philosophie, ein paar Wellen schlagen würde - denn die akademische Welt fühlt sich dem Liberalismus verpflichtet. Aber ich hätte nicht gedacht, dass unter den ersten Rezensenten konservative Kolumnisten der New York Times, aber auch jene des Wall Street Journals oder des Economists sein würden. Schließlich wurde es sogar von Präsident Obama erwähnt. Als sich dann auch politisch linke Denker für das Buch zu interessieren begannen, wurde der Leserkreis nochmals erweitert. Der Erfolg des Buches hängt wohl hauptsächlich damit zusammen, dass der Liberalismus als politische Ordnung in einer tiefen Krise steckt.
Renata Schmidtkunz:
Wie erklären Sie sich denn selbst, Herr Deenen, diesen Erfolg? Sie haben gesagt, es hat damit zu tun, dass es um Liberalismus geht, und ich denke, Sie treffen damit auch einen amerikanischen Nerv, ein amerikanisches Selbstverständnis. Was glauben Sie, sind die Gründe für diesen unglaublichen Erfolg?
Patrick Deneen:
Niemand kann den besten Zeitpunkt für eine Veröffentlichung vorhersagen. Aber unmittelbar nach der Wahl von Donald Trump, nach der Brexit-Abstimmung und natürlich nach dem Aufstieg der populistischen Parteien in ganz Europa, schien das Buch den Nerv der Zeit zu treffen. Die Menschen suchten nach Erklärungen für diese Ereignisse. Sie brauchten jemanden, der ihnen half, zu verstehen, wie das geschehen konnte. Und wenn mein Buch einen Vorteil hat, dann den, dass es eben genau nicht als Antwort auf diese Ereignisse geschrieben wurde. Die Buchhandlungen sind voll von Büchern über Donald Trump oder den Aufstieg des Populismus. Aber diese Bücher reagieren immer auf konkrete Vorfälle. Mein Buch hingegen ist das Ergebnis eines zehn- bis fünfzehnjährigen Nachdenkens über diese Themen, nicht aber über ein konkretes politisches Ereignis. Ich hatte die Absicht, die verschiedenen Denkrichtungen zu erforschen, die am Schnittpunkt von politischer Philosophie und politischer Realität aufeinander treffen. Krisen können nicht auf die Schnelle erklärt werden. Ich glaube, das Buch ist so erfolgreich, weil ich es nicht um des Erfolgs Willen geschrieben habe.
Renata Schmidtkunz:
Also, wenn Sie sagen, 15 Jahre haben Sie über dieses Thema nachgedacht, dann sind wir im Jahr 2003/2004. Das war lange vor der Wirtschaftskrise des Jahres 2008, die wir ja als wirklichen Wendepunkt in der Weltgeschichte sehen können. Es war aber schon nach Beginn des 1. Irakkrieges, das war 13, 14 Jahre nach dem 1. Irakkrieg, der auch eine Markierung darstellte. Und natürlich frage ich mich, was hat in Ihnen denn gearbeitet, dass Sie das Gefühl gehabt haben: Ich muss da jetzt über ein Thema nachdenken, und erst sehr viel später wahrscheinlich kam der Gedanke ein Buch zu schreiben. Was hat in Ihnen selber so gepocht oder geschmerzt, was ist Ihnen unverständlich geworden?
Patrick Deneen:
In den Vereinigten Staaten sind viele Menschen mit dem politischen System sehr unzufrieden. Sie haben den Eindruck, dass die Wahlmöglichkeiten, die ihnen von Politikern angeboten werden, nicht ihrer Lebensrealität entsprechen. Politiker kreieren eine Art künstliche Realität und geben vor, die perfekten Antworten zu haben. So erhoffen sie, möglichst viele Wählerstimmen aus verschiedenen Kreisen zu erhalten. Aber mit dieser Art von Koalition kann man nicht in einer, wie ich es nennen würde, tiefgehenden Beständigkeit regieren. Ich gehöre eher zur konservativen Seite, das ist bekannt. Konservativ heißt für mich, dass man eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung bewahren und Stabilität herstellen möchte. Man will nicht ständig den Transformationen, dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen sein. Dieser Konservativismus geht zurück auf den irisch-britischen Staatsphilosophen und Politiker der Aufklärung, Edmund Burke. Der große Konservative der 1980er Jahre, Ronald Reagan, bezieht sich genau auf diesen Konservativismus von Burke. Reagan repräsentierte einerseits diese traditionellen Werte, sagen wir zum Beispiel, Familie. Aber andererseits war er für eine Marktwirtschaft, die in vieler Hinsicht genau die ersehnte Stabilität zerstörte, die Menschen brauchen, um Familien zu gründen und Lebenspläne machen zu können.
Renata Schmidtkunz:
Ist das nicht ein unüberwindbarer Widerspruch immer schon gewesen: Für konservative Werte einzustehen, Familie und Tradition und Qualität und Bewahrung, und auf der anderen Seite – und das waren ja immer die Konservativen, die diese Art von neoliberaler Politik vorangetrieben haben, bis auf einige Ausnahmen, die zum Beispiel Tony Blair und Gerhard Schröder hießen, aber viel später – diese Art von Wirtschaftsgebaren: Das ist doch für jeden denkenden Menschen von vornherein ein totaler Widerspruch.
Patrick Deneen:
Wie ich vorher sagte, decken sich die politischen Angebote nicht mit der in der Realität vorhandenen Nachfrage. Das trifft aber auch auf die politische Linke zu. Die Linke wünscht sich eine Gesellschaft, in der wir sozialer sind, in der wir uns umeinander kümmern. Aber bei Fragen des Lebensstils - und da denke ich speziell an die sexuelle Revolution - waren sie genauso liberal wie die Republikaner in Wirtschaftsangelegenheiten. Es klingt paradox. Wo die Konservativen sozialer denken, denken die Progressiven liberaler und umgekehrt. Das Interessante ist, dass sich aber auf beiden Seiten das liberale Denken durchgesetzt hat. Und so ist Amerika immer liberaler geworden, sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Hinsicht. Menschen wollen ein sozialeres Wirtschaftssystem, und sie wollen familienfreundliche Werte, aber dieser positive Gedanke hat immer verloren. Ich bin jemand, der sowohl ein sozialeres Wirtschaftssystem als auch stabilere soziale und persönliche Beziehungen begrüßt. Nur so können Menschen ihr Leben in relativer Stabilität führen. In Wahrheit geht es nicht um diese Partei oder jene Partei. Es geht um die tiefere Hingabe zur Philosophie des Liberalismus, die sich in unserer Politik manifestiert.
Renata Schmidtkunz:
Wir können dieses Thema natürlich auch von einer anderen Seite ansprechen, Herr Deneen, und zwar von der Seite der amerikanischen Geschichte her. Schon in der Gründung der Vereinigten Staaten heißt es: "the land of the brave and the free", also das Land der Tüchtigen und der Freien. Also Freiheit als Wert so darzustellen, wie es in Europa eigentlich nur die Aufklärung in dieser Form gemacht hat und die Reformation Martin Luthers. Die Freiheit in einem Land, in dem ganz wenig Bevölkerung ist - und diese wenige Bevölkerung wird ausgemerzt - philosophisch und politisch zu entwickeln als ein Ideal, bedeutet etwas anderes als Freiheit in einem kleinen Europa, das von Kriegen erschüttert wurde - immer und immer wieder. Und wo man begriffen hat, meine Freiheit kann nur auch die Freiheit des anderen, mein Wohlergehen kann nur auch das Wohlergehen des Anderen sein. Geografie schafft Voraussetzungen für politische Ideen. Würden Sie zustimmen und dann mir vielleicht erklären, wie sich das Ihrer Meinung nach in Amerika entwickelt hat?
Patrick Deneen:
Dieses Thema ist wirklich faszinierend, und ich behandle es in vielen meiner Lehrveranstaltungen. Es ist wichtig für Amerikaner. Aber wir sollten uns vor Augen führen, dass die ersten Europäer aus England – oder wie meine Vorfahren aus Irland –nicht bloß wegen ihrer persönlichen Freiheit nach Amerika kamen. Die meisten kamen, um die Freiheit zu haben, sich in einer Gemeinschaft zusammenzuschließen. Denken wir zum Beispiel an die Pilgerväter, die als eine der ersten Einwanderer nach Amerika kamen...
Renata Schmidtkunz:
Und können wir noch etwas dazu fügen? Die Suche nach wirtschaftlichem Erfolg.
Patrick Deneen:
In diesem Fall suchten sie religiöse Freiheit. Es waren die Pilgerväter von Massachussetts in Neu-England, von wo ich auch herkomme, die diese stabilen, sehr hierarchisch strukturierten Gemeinschaften gebildet haben - eigentlich autoritäre Gemeinschaften, die wir heute als puritanisch bezeichnen.
Renata Schmidtkunz:
Und patriarchal.
Patrick Deneen:
Patriarchal, sehr kontrolliert, sehr reguliert. Dahinter steckte teilweise die Angst, dass die Offenheit, die Weite des neuen Landes, Mitglieder in Versuchung führen würde, eigene Wege zu gehen. Das ist eine zutiefst amerikanische Geschichte. Die Menschen kamen nicht nur nach Amerika, um die Freiheit für sich selbst zu suchen. Sie kamen auch wegen der Freiheit, eine Gemeinschaft bilden zu können. Das Problem oder die Herausforderung aber ist, dass man, wenn man mit der eigenen Gemeinschaft unzufrieden ist, vor einer Entscheidung steht: Versuche ich, meine Gemeinschaft zu verändern, indem ich mit ihren Mitgliedern diskutiere, nach Kompromissen suche oder mich selbst in Frage stelle? Oder verlasse ich die Gemeinschaft? Ich glaube, die meisten tendierten dazu, einfach zu gehen. Das ist einer der Gründe, warum sich die Ideologie des Liberalismus als Kern des amerikanischen Wesens manifestiert hat.
Renata Schmidtkunz:
Es war der wunderbare Harold Bloom, großer Shakespeare-Kenner, der in den 2000er Jahren gestorben ist, der darauf hingewiesen hat, dass zum Beispiel der Mormonismus die Inkorporierung des amerikanischen Geistes sei. Warum? Weil die Mormonen in Ihrer Anfang des 19. Jahrhunderts stattgefundenen Gründung die Auferstehung und das sich Zeigen Christi nach der Auferstehung nach Amerika verpflanzt haben. Also die Offenbarung Gottes hat in Amerika stattgefunden. Das ist sozusagen das Herz der mormonischen Religion. Und der Mormonismus hat klargemacht, man kann in den Westen nur als Gruppe gehen. Und zu diesem Zweck muss auch das religiöse System auf der Gruppe basieren. Du kannst nicht in den Himmel kommen ohne deine Familie. Das heißt, diese Kolonialisierung Amerikas hat viele, viele Dinge grundgelegt, die sich heute in dem, was Sie Liberalismus nennen und als Liberalismus beschreiben, widerfinden. Zum Beispiel auch die Angst vor der Übermacht des Staates, weil viele dieser Gruppen aus Europa geflohen sind - aus Deutschland zum Beispiel, die Amischen aus Norddeutschland. Und die wollten da einfach ihre eigene Gemeinschaft begründen. Wo finden Sie das heute wieder im amerikanischen Liberalismus?
Patrick Deneen:
Das ist ein faszinierendes Thema. Amerika ist, historisch gesehen, eine Mischung von zutiefst individualistischen Denkweisen. Deswegen beschäftige ich mich mit der Philosophie der amerikanischen Gründerväter. Nun gibt es ja dieses berühmte Musical über einen der Gründerväter der Vereinigten Staaten, Alexander Hamilton, das die individuelle Freiheit zelebriert. Oder denken wir an die Feierlichkeiten am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Aber, und das muss man betonen, dieses Land wurde auch mit der tiefempfundenen Vorstellung gegründet, dass diese neue Welt auch Raum für eine gemeinschaftsorientierte Freiheit bietet. Die Mormonen sind der lebende Beweis dafür.
In Amerika herrscht eine Spannung zwischen der Idee einer gemeinschaftsorientierten Freiheit und der Idee einer pluralistischen Freiheit. Nur wenn wir das erkennen, können wir den amerikanischen Liberalismus verstehen.
Liberalismus ermöglicht den Menschen, unterschiedliche Lebenswege zu gehen. Aber dieses Denken geht ursprünglich auf nicht-liberale Annahmen über die menschliche Natur zurück. Heute finden wir einen Liberalismus vor, der zwar von der Freiheit des einzelnen Menschen ausgeht und ihn als Individuum mit eigenen Rechten sieht. Aber dieses Individuum hat anderen Menschen gegenüber keine Verpflichtungen mehr. Der amerikanische Lebensstil ist geprägt vom Kampf zwischen der Philosophie und, sagen wir, der realen Lebensgestaltung. Und die Kernthese meines Buches ist, dass die Philosophie zunehmend die Oberhand gewinnt. Mit anderen Worten: Wir setzen immer mehr auf die individuelle Freiheit, die Ideologie des befreiten Ichs. Wir werden zunehmend zu jenen Menschen, wie sie der Philosoph John Locke beschrieben hat: Individuen, die frei und gleich in ihrer Natur sind, gerade weil sie in Beziehung mit anderen Menschen niemandem verpflichtet sind.
Renata Schmidtkunz:
Ich habe Sie das alles gefragt, Herr Deenen, um klarzumachen, dass dieser amerikanische Liberalismus sehr gebunden ist an diesen Kontinent, an die Geschichte der Kolonialisierung und Migration, an die Geschichte auch der Ausradierung der indigenen Völker. Denn, wenn ich sage, meine individuelle Freiheit, heißt das ja auch, anders als bei Voltaire, meine Freiheit ist auch deine Freiheit. Heißt das ja auch, dass ich diesen Imperialismus und diesen Kolonialismus, ohne mich schuldig zu fühlen, durchführen kann. Und ich wollte jetzt im ersten Teil des Gespräches klarmachen, es gibt bestimmte historische Entstehungsmomente, die Ihre Idee oder die Idee des amerikanischen Liberalismus geprägt haben, anders als in Europa. Liberalismus in Europa ist ein Liberalismus, der immer zwischen Individuum und Gemeinschaft stattfindet. Lehren Sie das Ihre Studierenden, dass es in Europa ein anderes Verständnis von Freiheit des Individuums gibt?
Patrick Deneen:
Die Beziehung zwischen Liberalismus und Imperialismus ist vorbelastet, hat deswegen aber eine interessante Geschichte. Ich habe gerade den Philosophen John Locke erwähnt. Er wurde manchmal als amerikanischer Philosoph bezeichnet, obwohl er Brite war. John Locke beschreibt die Natur des Menschen als Kreaturen, die nach Besitz trachten. Zuallererst besitzen wir uns selber. Irgendwann beginnen wir, unserem eigenen Ich noch weltliche, materielle Dinge hinzuzufügen, die mit unserem Selbst verschmelzen. Dieses Verständnis des Selbst hatten viele der frühen Kolonisten, die nach Amerika kamen. Und als diese Pioniere den indigenen Völkern – den "Indianern" – begegnet sind, erkannten sie, dass diese Menschen nicht diese ausgeprägte Form des Selbst hatten. Und deswegen hatten die Kolonisten sie nicht als vollwertige Menschen anerkannt. Weil die Ureinwohner nicht auf dieselbe Art und Weise Besitzansprüche an das Land stellten, es nicht ausbeuteten, hatten sie für die Eroberer also in gewisser Weise gar kein Recht auf das Land.
Renata Schmidtkunz:
Dann gibt es noch ein anderes Motiv, Herr Deneen, und zwar: Wir sind das auserwählte Volk, Amerika als Ganzes, als auserwähltes Volk, heißt ja dass die anderen nicht auserwählt sind. Und vor der Versklavung kommt die Verachtung. Dieses Verhalten ist ein zutiefst religiös genährtes, mit einer Hybris der Sonderklasse, und wirkte sich natürlich negativ auf die Ureinwohner aus.
Patrick Deneen:
Für die indigene Bevölkerung, die Sklaven, die von Afrika nach Amerika gebracht wurden, und – wenn ich nun kontrovers bin – für die Kinder, die heute abgetrieben werden, gilt im Sinne des Liberalismus: Wer kein menschliches Wesen, wie wir es verstehen, ist, wer also kein Selbst besitzt und über dieses Selbst verfügen kann, darf vertrieben oder beseitigt werden. Das ist ein wichtiger Grundgedanke des Liberalismus. Und auch wenn die Tradition des Liberalismus diese Sichtweise auf den Menschen von sich zu korrigieren schien: Nach dieser Definition ist das einzige Lebewesen, das Respekt verdient, ein selbstbestimmter, sich selbst gestaltender Mensch.
Renata Schmidtkunz:
Religion als Grundlage eines politischen und philosophischen Weltbildes, als Kontrolle der Gemeinschaften. Denn bis in die 1970er Jahre war Amerika in weiten Teilen sehr von Religion kontrolliert, heute noch im Bible Belt, also im südlichen Teil der Vereinigten Staaten. Und jetzt stellen Sie aber fest: es gibt überhaupt keine Grenzen mehr, es gibt nur mehr diesen Libertinismus, der alles erlaubt, der alles möglich macht, jedem überall. Was ist da passiert und wann ist da etwas passiert, Herr Deneen?
Patrick Deneen:
Die Entfremdung des Menschen von seinen Traditionen und seinem kulturellen Erbe muss empirisch betrachtet werden, als historische Angelegenheit, als ein sich allmählich entwickelnder Prozess. Er ist Teil der amerikanischen Tradition. In den letzten Jahren wurde dieser Prozess beschleunigt. Wir haben vorher von den Puritanern gesprochen. Es war ein entscheidendes Ereignis der frühen puritanischen Geschichte, als Roger Williams, der Vater des amerikanischen Baptismus und Vorkämpfer der Religionsfreiheit, beschloss, nicht mehr Teil seiner Gemeinschaft zu sein. Er wollte seine eigene Gemeinschaft in Rhode Island gründen und verließ die puritanische Gemeinschaft. Ein Paradebeispiel der amerikanischen Tradition: Wenn einem etwas nicht gefällt, geht man einfach. Und genau dieses Ethos finde ich zutiefst problematisch für unsere Zeit.
PATRICK J. DENEEN
Wie kann man eine Zivilisation aufbauen, wenn sich jeder nur seiner radikalen individuellen Freiheit verpflichtet fühlt?
Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum wir in den Vereinigten Staaten heute nicht mehr über das Gemeinwohl nachdenken. Wir haben nicht mehr die Fähigkeit, so etwas wie Gemeinwohl zu denken geschweige denn darüber zu sprechen.
Renata Schmidtkunz:
Ein zufällig zusammengekommenes Volk, nämlich die Amerikaner, haben gute Absichten, indem sie ein Land gründen, the United States of America. Und bis zum 2. Weltkrieg kann man sagen, dass für die Europäer und speziell im 2. Weltkrieg die Amerikaner auch eine moralische Instanz waren. Die Amerikaner haben uns und natürlich auch die Russen und auch die Franzosen, auch die Engländer vom Faschismus befreit. Seit dem 2. Weltkrieg muss man sagen, man beobachtet, mehr und mehr eine militärische Lust und eine kolonialistische Lust. Vietnam war nur einer der Beginne dieser kolonialen Energie, die da seit ungefähr 50 Jahren von Amerika ausgeht. Wie erklären Sie das Herr Deneen?
Patrick Deneen:
Das Ende des Zweiten Weltkrieges war ein entscheidender Augenblick für die Vereinigten Staaten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Vereinigten Staaten, wenn sie in einem Krieg gekämpft hatten – und sie hatten in vielen Kriegen gekämpft – am Ende des Krieges das Militär verkleinert und auf eine Art Friedenszeit-Militär reduziert. Die Soldaten wurden von ihren Pflichten befreit und nach Hause geschickt. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht geworden. Aber wie verhält sich eine Weltmacht, die sich der Idee der liberalen Freiheit verpflichtet fühlt? Entweder man zeigt wohlwollende Präsenz und erlaubt den Menschen, auf ihre eigene Art und Weise zu leben. Man sagt, „wir werden keine imperialistische Macht sein“. Oder aber man gibt sich als Nation mit kämpferischem Geist, die die amerikanische Freiheitsidee in der ganzen Welt durchsetzten will. Lange Zeit wurde intern darüber diskutiert, wie man es nun machen solle. Der Weg, der schließlich eingeschlagen wurde – und das trifft für die politische Linke und die politische Rechte zu –, war letzterer. Man wollte die Welt im Sinne des amerikanischen Liberalismus kämpferisch befreien.
Renata Schmidtkunz:
Es ist wie ein göttlicher Impetus, der da aus dieser Haltung spricht: „we bring democracy“, das war der große Spruch während des ersten Irakkrieges. Millionen Menschen in Europa waren auf den Straßen, um gegen diesen Krieg zu demonstrieren. Das war ergebnislos. Und heute schauen wir in den Nahen Osten und sehen, was los ist. Der Syrien-Krieg ist eine Fortsetzung der Kriege, die seit eh und je im Nahen Osten ausgefochten werden. Woher kommt diese religiöse Idee, ein anderes Land, einen anderen Kontinent, in mein eigenes Ich zu verwandeln, Herr Deneen?
Patrick Deneen:
Spannend ist, dass sich George W. Bush als Präsidentschaftskandidat gegen das sogenannte „Nation building“ aussprach. In seiner Wahlkampagne sprach er sich dagegen aus, Amerikas Vorherrschaft ständig zu erweitern. Diese Ansicht wurde, gerade auch unter konservativ denkenden Menschen, begrüßt. Man wollte nicht, dass Amerika seine ganzen Ressourcen verschwendet, um mit seinen weltweiten Militär-Niederlassungen ein riesiges „Imperium“ aufrecht zu erhalten. Die Ereignisse vom 11. September 2001 änderten alles. Nun war Bush der Meinung, dass man Amerika schützen müsse. Leute wie Dick Cheney nutzten die Gelegenheit, um die Welt und den Nahen Osten nach den Vorstellungen des amerikanischen Liberalismus zu gestalten.
Renata Schmidtkunz:
Und das Erdöl auch mitzunehmen währenddessen.
Patrick Deneen:
Es gehört zum amerikanischen Selbstverständnis, dass sich Realpolitik und Idealismus miteinander vermischen. Die alttestamentarische Vorstellung des gelobten Landes, des auserwählten Volkes oder der missionarischen Nation, wie man sie von Israel hatte, wurde von den frühen Kolonialisten auf das neu eroberte Amerika übertragen. Und sie hat sich bis heute gehalten. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Ich denke, die amerikanische Intervention im Zweiten Weltkrieg war gut für Europa. Natürlich war diese Art des Denkens die Quelle sehr vieler Dummheiten. In den letzten 40 Jahren wurde damit mehr Übel als Gutes getan.
Renata Schmidtkunz:
Ich habe gelesen, Herr Deneen, dass Sie Katholik sind, ein sehr gläubiger Katholik, das ist jetzt für einen Iren auch nicht weiter verwunderlich, würde ich sagen. Das kommt ja in Ihrem Buch auch durch, dass der christliche Glaube Sie sehr stark auch prägt in Ihrer Sicht auf die Dinge, zum Beispiel auch auf die Frage der Gerechtigkeit. Wenn man nun bedenkt, dass in Lateinamerika in den 70er und 80er Jahren die Befreiungstheologie so stark wurde und es ausgerechnet die CIA war, also die amerikanischen Behörden, die dort gezielt Priester, Bischöfe, Gemeindemitglieder ermorden ließen, um die amerikanische Idee, des sich ausbreitenden Marktes und der Demokratie, die man da bringen wollte, zu verwirklichen. Da frage ich mich, ob Sie Patrick Deneen, damals in diesen Jahren des Kalten Krieges gegen die Kirchen Lateinamerikas, einen Schmerz gefühlt haben in Ihrer Seele?
Patrick Deneen:
Das war eine dunkle Zeit in der amerikanischen Geschichte, in vielerlei Hinsicht. Es ist natürlich schwierig, im Nachhinein darüber zu sprechen, wie es war, mitten im Kalten Krieg zu sein, in existenzieller Bedrohung, die man in Amerika und zweifelslos auch in einem Europa gespürt hat, das von Atomwaffen umringt war. Viele Menschen glauben, dass beinahe jede Handlung gerechtfertigt war, um das eigene Leben und die eigene Regierung zu retten. Heute sehen wir die Auswirkungen des Kalten Krieges, der an einigen Orten ziemlich heiß war und viele verheerende Wunden hinterlassen hat – auch in der Seele Amerikas. Aber ich glaube, selbst heute können wir das komplette Ausmaß noch immer nicht überblicken. Aber gegenüber Lateinamerika und der lateinamerikanischen Kirche hat sich Amerika stets feindselig verhalten. Amerika hatte immer eine konfliktbeladene Beziehung zur katholischen Kirche. Die Staaten wurden von Protestanten gegründet. Und diese waren natürlich anti-katholisch. Als John F. Kennedy für das Präsidentenamt kandidierte, musste er den Wählern versichern, dass er nicht als Katholik regieren würde. Er musste seinen Glauben als private Angelegenheit behandeln. Amerika war nicht nur der katholischen Kirche gegenüber feindselig gesinnt, sondern auch gegenüber– wie ich sagen würde – älteren Traditionen, die sich mit dem Freiheitsbegriff befassten. Und jene älteren Traditionen – die klassische Philosophie, der ursprüngliche Katholizismus, und später die Befreiungstheologie – setzten Freiheit mit Selbstkontrolle und Selbstmäßigung gleich. Und ich glaube, wir brauchen genau dieses Freiheitsverständnis als Korrektiv unserer modernen Vorstellung von Freiheit.
Renata Schmidtkunz:
Ich finde es sehr interessant, Herr Deneen, wenn ich das so sagen darf, dass Sie meine Frage nach der Befreiungstheologie, sofort in den Kontext des Kalten Krieges gestellt haben. Das war natürlich die Sicht der herrschenden Eliten in Amerika, dass Befreiungstheologie und Kalter Krieg eine Sache seien. Aus der Sicht der Lateinamerikaner war es natürlich nicht so. Und deswegen habe ich Sie sehr persönlich gefragt, hat es in Ihrer Seele einen Riss gemacht? Denn ich verstehe Ihr Buch als ein Nachdenken über sich selber. Sie sind in den Katholizismus, in den Konservativismus reingeboren worden und haben sich jetzt durch das Nachdenken über Dinge verändert hin zu einem Kritiker des Amerikanischen Liberalismus. Und das finde ich interessant.
Patrick Deneen:
Wenn ich an meinen Lebenslauf denke, dann erinnere ich mich, dass die Vereinigten Staaten, als ich 12 Jahre alt war, ihren 200. Geburtstag feierten. Ich war damals durchdrungen von Patriotismus. Ich lernte, die Unterschriften aller Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung zu imitieren. Ich erinnere mich aber auch daran, dass sich mein Glaube durch die Begegnung mit der katholischen Theologie und Philosophie vertiefte. Ich wuchs als eher mittelmäßiger Katholik auf. Ich wäre wahrscheinlich wie viele meine Klassenkameraden geworden, nämlich säkular orientiert. Doch durch meinen Beruf als politischer Philosoph musste ich die Texte großer katholischer Denker wie Augustinus oder Thomas von Aquin lesen. Und ich erkannte plötzlich die profunde Tiefe jener Denkansätze. Ich erlebte eine tiefe Verbundenheit mit ihnen und erkannte, dass der Glaube meiner Vorväter tief in meiner eigenen Seele verankert war. Bis zu diesem Moment war die Freude an der intellektuellen Beschäftigung mit diesen Theorien einfach noch nicht geweckt worden. Ich erkannte, dass mein Patriotismus, die Liebe zu meinem Land und die philosophische Ausrichtung meines Landes im Widerspruch zur neu entdeckten Denkweise standen. Sie widersprachen einer Denkweise, die auf Aristoteles und Plato zurückging.
Es erstaunt mich, dass es die konservativen US-Amerikaner sind, die mein Buch am vehementesten kritisieren. Es sind nicht die Linksliberalen oder Progressiven, die dem Buch am kritischsten gegenüberstehen, sondern es sind meine konservativen Kollegen.
Gerade heute ist ein weiterer Artikel erschienen, der mein Buch als fundamental anti-amerikanisch bezeichnet. Es sei feindselig gegenüber der amerikanischen Tradition. Es störte sie anscheinend, dass ich nach der Strenggläubigkeit des konservativen Denkens fragte und deren Hingabe an den Liberalismus hinterfragte.
Renata Schmidtkunz:
Und in diesem Sinne haben die Kritiker ja Recht. Sie kritisieren fundamental das Selbstbildnis der USA.
Patrick Deneen:
Wie ich bereits sagte, stehen in den USA die gelebte pluralistische Freiheit und die Philosophie der individuellen Freiheit miteinander in Konkurrenz. Ich glaube eigentlich, dass die in Gemeinschaft gelebte Freiheit, historisch gesehen, besser war als die amerikanische Philosophie des individuellen Liberalismus. Die wichtigste Erkenntnis meines Buches ist, dass sich diese gelebte Praxis nun der intellektuellen Theorie unterworfen hat. So kam ich auf die Idee des Buchtitels, der darauf anspielt, dass der Liberalismus gescheitert ist, weil er gesiegt hat.
Renata Schmidtkunz:
Das ist die Hauptthese Ihres Buches, das haben wir noch gar nicht erwähnt: es ist damit gleichzeitig, frage ich Sie jetzt, Herr Deneen, eine fundamentale Kritik am Protestantismus?
Patrick Deneen:
Ich würde sagen, wenn es denn eine theologische Quelle für den Liberalismus gibt, so ist es der Protestantismus. Die Begründer der liberalen philosophischen oder politischen Philosophie waren Protestanten. Sie waren noch Teil einer Gesellschaft, mit starkem sozialen Zusammenhalt. Es gibt einen Kern radikal individueller Autonomie, der den Protestanten, allen voran den Vordenkern der protestantischen Philosophie, innewohnt. Mein Buch beschäftigt sich zwar nicht mit Theologie, sondern bezieht sich auf die politische Philosophie, aber es gibt vielleicht auch ein theologisches Gegenstück zu meiner Gesellschaftskritik.
Renata Schmidtkunz:
Ich denke Herr Deneen, dass es ganz hilfreich ist, wenn man ein bisschen auch diesen religiösen Hintergrund kennt, die religiöse Geschichte Amerikas mitbedenkt, weil man sonst ja auch diese Vorstellungen, dass Amerika die Welt befreit und dass Amerika die Welt erlöst, und in Wirklichkeit Amerika die Welt, in den letzten 50 Jahren zumindest, in Schutt und Asche legt, nicht immer und nicht überall, aber oft, nicht verstehen kann, denke ich. Also, es ist eine mutige Kritik an etwas. Sie erwähnen, Herr Deneen, in Ihrem Buch sehr oft den Kommunismus gleichwertig mit dem Faschismus, die Sozialdemokratie kommt gar nicht vor in Ihrem Buch. Jetzt feiern wir demnächst 30 Jahre Mauerfall, das Ende der UdSSR, in den Jahren 90/91, und ich frage mich, Herr Deneen, ob Sie eventuell nach Ihrem Buch und nach Ihren Erkenntnissen, auf diesen großen Wandel in Europa anders blicken können? Zum Beispiel auch sich fragen können, was hat das Ende des Ostblocks auch zerstört an Möglichkeiten, an Alternativen des Lebens, denn es war ja nicht nur Krieg in diesen Ländern, es waren ja nicht nur Menschen, die in Gefängnissen gesessen sind. Es sind ja auch soziale Utopien entwickelt worden. Die sind nicht gelungen, aber sie waren da.
Patrick Deneen:
In den USA können wir derzeit nicht nur einen konservativen Anti-Liberalismus beobachten, sondern auch einen links-progressiven Anti-Liberalismus. Oder besser noch: Einen Anti-Neo-liberalismus. Zum ersten Mal in meinem Leben wird der Sozialismus in den USA begeistert aufgenommen. Wir haben Bernie Sanders, der mit einer sozialistischen Wahlkampagne bei den Präsidentschaftswahlen kandidiert. Das spiegelt die allgemeine Empfindung wider, dass der Liberalismus als politische Ordnung in den USA gescheitert ist. Was sowohl die politische Rechte als auch die politische Linke derzeit beschäftigt, ist die Suche nach Alternativen zu diesem liberalen Modell. Sie haben recht: Ich bin antikommunistisch, wenn wir unter Kommunismus die Verstaatlichung von Besitz verstehen. Ich glaube, das ist eine fürchterliche Idee, und das ist historisch sogar bewiesen. Sozialismus und Sozialdemokratie versuchen die Marktkräfte zu mäßigen. Sozialdemokratie erlaubt aber, und das ist wichtig, noch Privatbesitz. Das entspricht der menschlichen Natur. Wir wollen unsere eigenen Sachen haben, und wir wollen uns um unsere Sachen kümmern. Vor langer Zeit stellte sich Aristoteles die Frage, ob Gemeinschaftsbesitz besser wäre, und stellte fest: Wenn alles allen gehört, passt niemand auf die Dinge gut auf. Wenn ich mir die Studentenheime anschaue, kann ich dem nur zustimmen. Aber wir wissen Dank der vergangenen 30, 40 Jahre, dass der ungezügelte Kapitalismus bzw. der Neoliberalismus auch nicht der menschlichen Natur entspricht. Er führt zu Katastrophen, die vielleicht nicht so schrecklich sind wie der Kommunismus, aber dennoch der Menschheit schaden.
Wenn Sie heute eine US-amerikanische Universität besuchen, zum Beispiel die Notre Dame Universität, an der ich unterrichte, und wenn Sie aus einer wohlhabenden Familie kommen, dann werden Sie ein fantastisches Leben in meinem Land führen können. Wenn Sie aus einem ländlichen Gebiet kommen, wenn Sie nicht die gleichen Bildungschancen haben, dann werden Sie nicht nur nicht wohlhabend werden. Sie werden höchst wahrscheinlich auch nicht verheiratet bleiben. Ihre Kinder werden eventuell an einer Sucht erkranken. Ihr Leben gleicht einer Katastrophe. Diese beiden extrem konträren Lebensformen entsprechen nicht unserer Natur.
Wenn wir unter Sozialdemokratie eine gemäßigte Marktwirtschaft verstehen, die sicher stellt, dass für das soziale Wohlergehen gesorgt und soziale Ziele verfolgt werden, dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir in Amerika die Sozialdemokratie stärken können.
Die Architekten der europäischen Sozialdemokratie waren meist Katholiken. Sie sahen, dass wir weder radikale Individuen noch Kommunisten sind, die den Wunsch nach privatem Eigentum überwinden können. Unsere Natur liegt irgendwo in der Mitte. Ich denke, das 20. Jahrhundert hat diese Mitte eliminiert. Stattdessen leben wir heute in Extremen. Wir brauchen eine Korrektur. Ich sehe uns Menschen als Mischwesen.
Renata Schmidtkunz:
Also ich denke, dass der europäische Sozialstaat ein sehr erfolgreiches Modell war. Seit 1990 sind wir Europäerinnen und Europäer überflutet worden vom amerikanischen Liberalismus und das hat auch dazu geführt, dass amerikanische Lobbyisten, zum Beispiel, es sich im Europaparlament sehr bequem gemacht haben und sehr begierig waren und immer noch sind auf den europäischen Sozialmarkt, wie Sie es nennen. Wir nennen es Sozialstaat. Also ich denke, es gibt erfolgreiche Modelle, Europa hat es gezeigt, diese Bedürfnisse von Besitzen und Teilen in einer guten Art durch einen Sozialstaat, so wie Sie sagen, moderieren.
Das heißt, man muss das Rad nicht neu erfinden. Sie könnten als Amerikaner Ihre Studierenden mit einer Reise nach Europa zeigen, was ein europäischer Sozialstaat ist, wo man nämlich Verantwortung und individuelle Freiheit, wie ich denke, auf perfekte Art und Weise verwirklicht wurde.
Patrick Deneen:
Europa war nach dem Zweiten Weltkrieg bis vor gar nicht allzu langer Zeit eine echte Alternative zu Kommunismus und Neoliberalismus, dem rohen, ungezügelten Kapitalismus. Aber für viele Konservative – und ich zähle mich hier selbst dazu – hatte Europa nicht nur eine glückliche Geschichte oder eine sozialere Ökonomie, die sich mit Krankenversicherung und Bildung um die Menschen kümmert. In Europa gibt es immer weniger Familiengründungen, Eheschließungen und Geburten. Amerika hat eine individualistischere Philosophie, aber eine stärkere Zivilgesellschaft, engere Familienstrukturen und stärkere religiöse Bindungen als Europa. Europa hat eine stärkere soziale Philosophie, aber schwächere Formen der Zivilgesellschaft, des Familien- und Gemeinschaftslebens. Wir müssen die beiden Modelle kombinieren, die amerikanische Tradition des Lebens in der Gemeinschaft mit der europäischen Sozialphilosophie zusammen bringen. Teil meiner radikalen Kritik ist es, dass beide Formen etwas von diesem tiefen liberalen Ideal haben. Momentan sehe ich, wie Amerika und Europa -natürlich aus entgegengesetzten Richtungen – sich im fürchterlichen Zustand des sogenannten „statist individualism“ treffen. Das ist eine Art Allianz zwischen Staat und Individuum, in der der Staat einen radikalen Individualismus zulässt.
Renata Schmidtkunz:
Das was wir jetzt in Europa haben, Herr Deneen, da möchte ich Ihnen gerne widersprechen, ist nicht das, was der europäische Sozialstaat war, als ich aufgewachsen bin. Wir sind heute 30 Jahre nach der Wende und der europäische Sozialstaat ist massiv angegriffen worden vom Neoliberalismus. Auch europäische Politiker und Politikerinnen haben Sparmaßnahmen durchgesetzt und da komme ich jetzt nochmal zu einem Punkt, der mir ganz wichtig ist: Liberalismus und Neoliberalismus und die negativen Folgen, die Sie in Ihrem Buch beschreiben: Zersetzung der Gesellschaft, der Familien und so weiter und so fort, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern es gab Menschen, die Entscheidungen getroffen haben. Lassen Sie uns über diese Menschen noch kurz reden, die Entscheidungen getroffen haben, denn im Moment wird diese Art von Wirtschaftssystem sehr gerne mit einer sogenannten Natur des Menschen argumentiert. Und ich würde dem einmal entgegenstellen, es ist die Natur eines Menschen, der etwas versprochen bekommt, einen Vorteil hat und deshalb eine Entscheidung trifft, die für die Gemeinschaft sich negativ auswirken kann. Was ist die Rolle der Politiker und Politikerinnen oder der Menschen, die in diesem neoliberalen, turbokapitalistischen System Entscheidungen gefällt haben und was für eine philosophische Grundlage hat das?
Patrick Deneen:
Es geht darum, was im Garten Eden verloren ging. Die Erbsünde ist die Idee, dass wir wie Götter werden und uns nicht länger als Teil der Schöpfung verstehen müssen. Aber der Mensch hat nichts geschaffen, er verfügen nicht über die Welt, er kann sie nicht kontrollieren. Es ist frappierend, dass sich die frühen Architekten der liberalen Philosophie gegen eine philosophische Tradition wandten, die auf das antike Griechenland zurückgeht und von römischen Denkern wie Cicero und katholischen Gelehrten geprägt wurde. Diese Tradition ging davon aus, dass der ungezügelte menschliche Wille, seine Begierde und das Bestreben, allein unsere eigenen Interessen zu verfolgen, dass uns all diese Dinge nicht frei machen. Vielmehr ist es der Zustand eines Sklavendaseins. Wir sind Sklaven von nie befriedigbaren Bedürfnissen.
Wenn Sie ein iPhone oder einen Computer haben, dann haben Sie endlich ihr Verlangen nach dem perfekten Telefon gestillt, oder? Steve Jobs wusste, dass man immer noch ein besseres iPhone machen kann, das neue Begierden schafft. Jobs Denken stellte sich einer Denktradition entgegen, die Freiheit mit Mäßigung und Selbstbegrenzung gleichsetze. Dieser Gedanke lässt sich auch auf Nationalstaaten umlegen. Er entspricht dem republikanische Ideal der Selbstverwaltung. Die Idee einer Republik bedeutet echte Selbstverwaltung und Selbstbegrenzung. Deshalb ist die Republik das Gegenteil eines Reichs. Ein Reich versucht, alles zu verschlingen. Und natürlich ist ein Reich nicht frei. Es wird von der ständigen Forderung getrieben, sich noch weiter auszudehnen, weil es vermeintlich ja niemals in Sicherheit ist. Was an der frühen Moderne und ihren Denkern bemerkenswert ist, ist die radikale Zurückweisung dieser alten Denktradition. In der Moderne ging man davon aus, dass man nur dann eine gute Politik in einer guten Gesellschaft machen könne, wenn man unsere selbstsüchtige Natur als etwas Gutes und Positives sieht. John Locke dachte, dass wir die Gesellschaft verbessern, wenn wir unseren eigenen Interessen und Wünschen folgen.
Auch Adam Smith sah die Wirtschaft nicht Dank Mildtätigkeit florieren, sondern Dank unseres Eigennutzes und Profitstrebens. Auch wenn nicht jeder von uns diese Philosophen gelesen hat, sie prägen doch unsere Weltsicht, sie organisieren unser gesellschaftliches Zusammenleben. Ich lehre mein Studierenden, das Wasser zu sehen, in dem wir schwimmen. Liberale glauben, dass Sie sich selbst gestalten. Für Liberale ist die Freiheit der natürliche Zustand des Menschen. Viele meiner Studierenden sind katholisch. Wenn ich sie frage, was Freiheit ist, geben sie mir interessanterweise die liberale Definition: Freiheit ist die Fähigkeit, tun zu können, was man möchte. Um zu verstehen, warum die Welt so ist, wie sie heute ist, müssen wir das Wasser, in dem wir schwimmen, also den Liberalismus, in dem wir leben, sichtbar machen.
Renata Schmidtkunz:
Wenn Sie Ihre Studierenden, Herr Professor Deneen, unterrichten, bringen Sie Ihnen dann auch bei, dass es mittlerweile ein Heer, ein unübersehbares Heer von Sklaven gibt auf dieser Welt? Die für Amazon und für ich weiß nicht wen arbeiten, ausgebeutet werden? Sie können in alle Länder der Welt gehen, selbst die USA hat manchmal das Gesicht eines Dritte-Welt-Landes. Diese übermächtigen Heere von Sklaven auf unserem Erdball, bringen Sie das Ihren Studierenden bei?
Patrick Deneen:
Das mache ich tatsächlich. Meine Studierenden lehnen Klassiker wie Aristoteles oder Platon sofort ab. Für sie sind sie Vertreter einer schreckliche Gesellschaft, die Sklaven hielt. Dann erinnere ich sie daran, dass die meisten nützlichen Dinge, die wir heute genießen, die vielen technologischen Hilfsmittel, von modernen Sklaven in moderner Sklaverei produziert werden. Selbst wenn wir nicht einen einzigen versklavten Menschen hätten, wir würden unseren Planeten versklaven. Liberalismus ist die Versklavung der Welt. John Dewey, einer der wichtigsten Philosophen Amerikas, sagte, wir müssen die Natur als eine Art Gefangenen betrachten, der seine Geheimnisse vor uns verbirgt. Und der einzige Weg, ihm diese Geheimnisse zu entlocken, sei Folter. John Dewey war ein großer liberaler Philosoph, der der menschlichen Freiheit verpflichtet war. Aber er wusste, dass diese Freiheit auf der Unfreiheit eines anderen beruhte.
Renata Schmidtkunz:
Und da, an diesem Punkt, kann man nun erinnern an das Wissen der indigenen Völker, an das Wissen von Frauen, an das Wissen von den Kräften der Natur, das von der Pharmaindustrie aufgesaugt wird und vernichtet wird, also wenn wir uns fragen: Was können wir tun gegen den Zustand, den Sie beschreiben, dann wäre es doch vielleicht ganz gut wieder anzufangen, zuzuhören hinzuschauen, ernst zu nehmen Menschen mit anderen Erfahrungen und anderem kulturellen Hintergrund anderer Geschichte.
Patrick Deneen:
Ich unterrichte an einer Universität, die sich – wie die meisten amerikanischen Universitäten – dem Multikulturalismus, der Diversität und der Internationalisierung verpflichtet hat. In diesem Semester werde ich in London unterrichten. Wir haben 150 Notre Dame-Studierende, die nach Europa kommen. Wir möchten, dass unsere Studierenden Universitäten anderer Länder besuchen können. Aber eigentlich stehe ich dieser Idee kritisch gegenüber. Denn was steckt dahinter? Es ist der Einstieg in eine internationale, kosmopolitisch orientierte Elite, die ihre Weltsicht nicht fundamental hinterfragen oder gar ändern wird. Unser Universitätscampus liegt nur fünf bis zehn Meilen entfernt von der Gemeinschaft der Amischen, das sind Bauern, die unsere Studierenden wohl nie kennenlernen werden. Unsere Studierenden würden sehr viel mehr lernen, wenn sie einige Wochen auf einer Farm mit den Amischen leben würden, statt ein Semester in London zu verbringen. So wundervoll dieses Auslandssemester auch ist: ich glaube, dass wir die wirklichen Herausforderungen der Diversität, die nur wenige Meilen von uns entfernt zu finden ist, übersehen. Die Kluft zwischen denen, die die Welt regieren, und allen anderen wird immer größer.
Renata Schmidtkunz:
Ganz zum Ende unseres Gespräches, lieber Herr Deneen, die Frage, die natürlich kommen musste, was ist denn Freiheit?
Patrick Deneen:
Jesus sagte, es gibt keine größere Liebe als die Liebe eines Menschen, der für seinen Freund stirbt. Freiheit ist die Fähigkeit, über unsere eigenen Interessen und unsere Selbstliebe hinaus zu handeln. Wenn wir unter Freiheit verstehen, nur das zu tun, was wir für erstrebenswert halten, dann führen wir ein liebloses Leben. Ich glaube, Freiheit ist die Fähigkeit, sich selbst zu opfern.
Service
Patrick J. Deneen, "Warum der Liberalismus gescheitert ist", Müry Salzmann Verlag
Patrick J. Deneen, "Why Liberalism Failed (Politics and Culture)", englische Originalausgabe Yale University Press
Patrick J. Deneen