Kunstkopfmikrofon

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Technik

Binaurales Hören – was ist das?

Eine binaurale Aufnahme erlaubt ein natürliches Hörerlebnis mit Kopfhörern, natürlicher als dies bei der Wiedergabe mit Lautsprechern möglich ist: Es ist die Reproduktion unseres räumlichen Hörens. Dabei ist die Ortung der Schallquellen nicht nur zwischen links und rechts, sondern auch zwischen vorne und hinten, oben und unten möglich.

Meist werden binaurale Aufnahmen mit einem Kunstkopf gemacht. Dabei handelt es sich um die Nachbildung eines durchschnittlichen menschlichen Kopfes mit integrierten Mikrofonen. Der Abstand der Ohren ergibt einen Laufzeitunterschied des eintreffenden Schalls aus verschiedenen Richtungen, der Kopf als Trennkörper bewirkt einen frequenzabhängigen Pegelunterschied, Ohrmuschel und Gehörgang sind frequenz- und phasenbeeinflussende Elemente.

Die Idee des Kunstkopfes ist fast hundert Jahre alt, das erste Exemplar wurde schon 1933 präsentiert (Harvey Fletcher / General Electric).

In den 1970er Jahren entwickelten Mikrofonhersteller wie Neumann, Sennheiser und AKG Kunstköpfe mit hochwertigen Kondensatormikrofonen, um die optimale Stereoaufnahme zu ermöglichen.

Rundfunkanstalten produzierten Kunstkopfhörspiele und Größen der Popmusik wie Lou Reed oder Pink Floyd veröffentlichten Schallplatten mit Kunstkopfaufnahmen. Das war in den 1970ern der neue Trend und das Nonplusultra der high fidelity.

Kopfmikrofon

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Leider stellte sich heraus, dass bei der Wiedergabe mit Lautsprechern von der Faszination dieser Aufnahmen nicht viel übrigblieb. Die überragende Räumlichkeit ging verloren und klanglich war es verwässert, verfärbt und hohl.

Ebenso hörten nur wenige Menschen mit Kopfhörern ab. Es war die Zeit der Compact-Stereoanlagen, die Boxen mussten möglichst groß sein und "fett" klingen, am besten 3-Weg mit Bassreflexöffnungen.

Außerdem stellte sich heraus, dass der Kunstkopf in der Anwendung nicht einfach ist. Eine nachträgliche Bearbeitung der Aufnahmen war nur minimal möglich und speziell bei Live-Mitschnitten war es oft schwierig, die Musiker so zu platzieren, dass die klangliche Balance stimmte.

Die Musiker hätten sich etwa im Kreis um den Kunstkopf aufstellen müssen, leise Instrumente näher, laute etwas weiter weg, sehr laute noch weiter weg. Was in einem guten, großen Studio funktionierte hätte bei einem Livekonzert sehr seltsam ausgesehen.

Und so verschwand der Kunstkopf für lange Zeit in den Regalen.

Drei bis vier Jahrzehnte später hat sich die Situation verändert.

Die Audiowelt ist inzwischen voll digitalisiert, Stereo ein alter Hut, angesagt sind Surround Sound und Ambisonics, es tauchen Begriffe auf wie Immersive Audio, 3D Sound, Virtual Reality. Schräge Trends wie 8D Audio oder ASMR erobern die youtube Kanäle.
Und Kopfhörer sind omnipräsent. Man hört jegliche Audioproduktion auch als download oder stream über Smartphone und Tablet mit Knöpfen im Ohr.

Plötzlich wissen computerspielende Kids etwas mit dem Begriff "Binaural" anzufangen, denn auf den Spielkonsolen hat sich der Kopfhörer als lebensechte akustische Virtual Reality-Glocke etabliert, die noch dazu kostengünstig ist.

Softwareschmieden und StudentInnen an Hochschulen tüfteln an Algorithmen, mit denen sich herkömmliche Aufnahmen oder auch künstlich erzeugte Klänge "binauralisieren", also kopfbezogen durch den Raum bewegen lassen.

Pate für diese Algorithmen stehen dabei die sogenannten HRTF (head related transfer functions), ein komplexes physikalisches Gemenge aus Ohrenabstand, Kopf als Trennkörper, Form der Ohrmuschel, Gehörgang und der daraus resultierenden minimalen Laufzeit-, Pegel- und Frequenzunterschiede zwischen linkem und rechtem Ohr - also ganz einfach das, was für unser alltägliches Hören völlig natürlich ist und es mit Sicherheit schon vor über 5000 Jahren war.

Für das Hörspiel "Tisenjoch - Aufstieg zur Fundstelle - eine akustische Rekapitulation" haben wir eine Kombination aus Kunstkopfaufnahmen und herkömmlichen Stereoaufnahmen (MS-Mikrofon) im Hochgebirge verwendet. Ziel war die Aufzeichnung von Geräuschen entlang des Weges, den der Mann vom Tisenjoch vor 5.000 Jahren nahm. Diese wurden zusammen mit den Interviews, dem im Studio aufgenommenen Text und der für das Hörspiel komponierten Musik in mehrtägiger Studioarbeit zu einer binauralen Mischung verarbeitet.

Text: Martin Leitner

Zuletzt kam der Kunstkopf auf Ö1 für das Projekt "Le Encantadas" von Olga Neuwirth zum Einsatz. Mit diesem Werk hatte die österreichische Komponistin eine akustische Reise durch den Klang-Archipel Venedigs gestaltet. Martin Leitner demonstrierte dafür die Wirkung des Kunstkopfmikrofons.