Grünes Gemälde

GERNOT BÖSCH

Ö1 Kunstgeschichten

"Der Mann in der Blüte" von Gabriele Bösch

Gabriele Bösch ließ sich für ihren Text von einem abstrakten Kunstwerk ihres Mannes Gernot Bösch inspirieren. In der Erzählung reist eine Frau nach Rom, ihr Mann sendet ihr kleine Nachrichten aufs Smartphone. Seine poetischen Sätze sollen geheimnisvoll klingen, sind aber für sie verwirrend, und das mitgeschickte Bild ergibt keinen Sinn. Erst als die Frau den römischen Stadtplan mit dem Abbild des Kunstwerks vergleicht, findet sie in diesem einen Beziehungspfad. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Ingrid Bertel und Edith-Ulla Gasser.

Immer, wenn sie sich zankten, wenn er scheinbar oder unscheinbar in ihre Räume eingedrungen war, packte sie ihre Koffer und verreiste. Dieses Mal schaffte sie es bis nach Rom. Er wusste nicht, wo sie sich aufhielt, deshalb starrte sie einigermaßen verblüfft auf das Display ihres Smartphones.

wir besitzen cirka 0,1 % aller begrifflichkeiten, um das göttliche beschreiben zu können. die sprache ist ein kleines fenster. das ewige steht hilflos davor. es schafft es nicht einmal, einen gedanken durchzuzwängen.

Hatte sie ihm geschrieben, sie befände sich in der ewigen Stadt? Sie konnte sich im Moment nicht erinnern. Als sie ihren Blick hob, begegnete sie einem Paar Augen, das sie zu fixieren schien. Ein seltsam gekleideter Vogel, der seinerseits einen Vogel auf der Schulter sitzen hatte, kam auf sie zu. Sie konnte kein italienisch, aber dass er ihr ein Foto anbot, verstand sie. "Fotografien sind für Idioten, die alles festhalten wollen", sagte sie laut während sie eindeutig den Kopf zur Verneinung schüttelte. Wie lästig Menschen doch sein konnten. Sie zwängte sich durch die Menge und setzte sich in einen kleinen Schatten an der Mauer auf den Boden. Die Hitze war gleißend. Das Gleißen jedoch war verbunden mit diesem speziellen Geruch des Südens, den sie mochte: er integrierte ihren Schweiß. Und Schweiß verband sie eindeutig mit Lust. Jetzt schon fehlte er ihr.

Gabriele Bösch

Die 1966 geborene Vorarlberger Autorin Gabriele Bösch lebt mit ihrem Mann und fünf Kindern in Hohenems. Sie begann in den 1990er Jahren mit dem Schreiben. 2004 erschien ihr Romandebüt "Der geometrische Himmel", der in einer dramatisierten Fassung am Theater Kosmos uraufgeführt wurde. 2012 folgte der Roman "Schattenfuge", 2016 der Lyrikband "Camera Obscura".

Sie seufzte. Das Kolosseum hatte sie sich größer vorgestellt. Es war nicht so beeindruckend, wie die Postkarteneindrücke es ihr vorgegaukelt hatten. Sie nahm eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und trank bedächtig, während sie ihren Blick über den Platz schweifen ließ. Ein raunendes Gesprächsmeer, durchsetzt von lautem Lachen. So viele Menschen. Und doch fühlte sie sich wie in einem Vakuum. Fast hätte sie das leise Pling überhört.

nulleins kommt der stofflichkeit im vakuum gleich, anders gesagt, entspricht es exakt den funkelnden sternen in unseren augen.

Die Zeilen begannen vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie hob den Kopf und blickte auf die zahllosen hölzernen Tiere, die ein Afrikaner vor ihr zum Verkauf anbot. Schlangen. Elefanten. Giraffen. Wonach soll man sich strecken, wenn man vor dem geflohen ist, der einerseits Himmel und andererseits Hölle ist und war, und überhaupt Sterne erst in einer SMS zur Sprache brachte?

Ihr Blick fiel erneut auf diesen seltsamen Vogel. Es war ein Wellensittich, der auf seiner Schulter saß. Jetzt hatte er zwei Frauen angesprochen, Mutter und Tochter, wie sie vermutete. Der Mann setzte der jüngeren den Wellensittich auf den Kopf und machte ein Foto. Danach bat er um eine Spende. Eine Falle, dachte sie, wie gut, dass sie ihr vorhin entronnen war. Eine Falle, dachte sie, was soll ich antworten?

Sie tippte: ich bin an einem ort, an dem gibt es vögel, die setzen anderen vögeln vögel auf den kopf und wollen auch noch anerkennung dafür. so ähnlich ist das mit dir.

Sie dachte nach. Was, wenn er jetzt beleidigt wäre und sich wie gewohnt zurückziehen würde? Der Afrikaner hatte jetzt tatsächlich zwei Elefanten verkauft. Wer stellt sich schon hölzerne Elefanten ins Wohnzimmer, dachte sie, und drückte auf den Pfeil. Egal, wenn er beleidigt war, warum konnte er auch nicht sprechen, wie ein erwachsener Mann? Warum musste er sich auch immer so verschwurbelt ausdrücken? Wir besitzen cirka 0,1 % aller Begrifflichkeiten, um das Göttliche zu beschreiben. Jetzt erst spürte sie jenen Zorn, der sie hierhergetrieben hatte auf diesen überhitzten Platz, an dem sich die Leiber gegenseitig nicht auskamen. Plötzlich ekelte sie sich.

Anja Pölzl

Anja Pölzl wirkt als freiberufliche Schauspielerin und Sprecherin in zahlreichen Produktionen, unter anderem am Kellertheater Innsbruck, bei den Freilichtspielen Schwaz, am Tiroler Landestheater, bei den Tiroler Volksschauspielen in Telfs und seit 2009 auch am Theater Kosmos in Bregenz. Sie steht für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera und ist regelmäßig auf Ö1 zu hören.

Sie packte die Wasserflasche zurück in den Rucksack, warf einen letzten Blick auf diese übereinander gebauten Bögen und stand, das Smartphone in der einen, den Rucksack in der anderen Hand, auf. Der Schwindel kam überraschend, die Bögen verschwammen und als sie auf dem Boden landete, machte es wieder Pling. Die Hand schmerzte, und als sie auf das Display sah, merkte sie, dass es nass war. Sie drückte und wischte und musste erst ein Taschentuch hervorziehen, um das Glas zu trocknen, ehe sie sah, was er ihr diesmal via WhatsApp geschickt hatte: Es war ein Bild. Wann hatte er es gemalt? Sie kannte es nicht und fragte sich, wann sie das letzte Mal in seinem Atelier gewesen war. Grün und Schwarz. Immer diese Neonfarben, dachte sie, und dass sie keine Ahnung hatte, was es darstellte. Irgendwie erinnerte es sie spontan an vergrößerte Leberzellen. Dann dachte sie, dass er die Dinge immer anders herum sah, und dass sie das Bild mit einer Art Kippblick betrachten musste: Das viele Grün war wohl der Vordergrund. Jetzt sah sie abstrahierte Seerosenblätter auf schwarzem Gewässer. Der Schwindel hat noch nicht nachgelassen, dachte sie, und dass sie genau hier an diesem Platz jetzt in genau so ein Gewässer springen wollte, Schlangen hin oder her. Stimmt, es könnten auch Schlangen sein, dachte sie, Schlangen, die sich zweiteilten und dreiteilten und aneinander andockten und doch Raum zwischen sich beließen. Dann sah sie auf Anhieb links unten den Mann. Pling.

die beobachtung geht immer vom physischen ins nichtphysische, schrieb er, die liebe ist ein zustand im synaptischen spalt.

"Die Liebe geht vom Physischen ins Nichtphysische", sagte sie wie zum Trotz laut, "deshalb bin ich hier!"

Sie blickte sich um. Niemand hatte von ihren Worten Notiz genommen, das war gut und war doch nicht gut. Wenn jetzt einer käme und sie mir nichts dir nichts in den Nacken küsste, dann ginge sie mit ihm, dachte sie und gleichzeitig fiel ihr ein, dass ihre Fahrstuhlphantasie hier an diesem kolossal überhitzten Platz völlig fehl und überhaupt so etwas wie für die Fische oder für die Schlangen war. Müde schaute sie noch einmal auf das Bild am Display. Sie stellte das Smartphone quer. Da zeigte sich doch wirklich ein grüner Schwan im Gegenblick für den Mann. Andererseits war der Mann schwarz und neigte seinen Kopf. Der grüne Schwan besaß drei überdimensionale Schwanzfedern, die wie ein Fächer wirkten. Ein Vexierbild. Sie seufzte. Diese Hitze, und dass er nie eindeutig sein konnte, weder in Bildern noch in Worten noch in Gesten. Immer nur Andeutungen. Eine Himbeere für ein Himmelreich musste genügen.

Sie vergrößerte das Bild, aber das brachte auch nichts. Unsere gegenseitigen Erkenntnisse sind irgendwie immer ein Nullsummenspiel, dachte sie und fragte sich, ob solcherlei Denken nicht vielleicht doch schon der Anflug einer Depression sei. Sie wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn und nahm erneut einen Schluck Wasser. Sie betrachtete die Andreaskreuze zwischen den Pfählen, zusammen ergaben sie ein Geländer, das hier den Platz von der Straße trennte. Die Dämmerung hatte jetzt eingesetzt, die dreiköpfigen Laternen schalteten sich ein und die Ampeln leuchteten jetzt roter als noch kurz zuvor. Fast war ihr, als läge auf dem Kopfsteinpflaster ein feuchter Schimmer. Wie alt es sein musste, um derart zu glänzen, dachte sie. Und mit einem Mal bedauerte sie, für ein Kopfsteinpflaster mehr Interesse aufzubringen als für den kolossalen Bau, den sie doch hatte sehen wollen. Sie drehte sich um und studierte die jetzt beleuchteten Bögen. Die unterste Reihe war vergittert. Die mittlere Reihe war von der Innenseite her mit Schaltafeln oder ähnlichem Material verschlossen. Nur die oberste Reihe war frei, die Beleuchtung zeichnete dunkelgelbe Bögen vor das Blau der aufkommenden Nacht. Der Himmel in Lücken ist dunkler als außen drumherum. Und die Menschen warfen jetzt längere Schatten, fiel ihr auf. Pling.

99% aller vögel, die an uns vorbeiziehen, sehen wir nicht. und 99% aller vögel, die wir sehen, sind fliegende mäuse… stell dir vor, ich sei ein mann in der blüte.

Ein Mann in der Blüte? Sie wusste, dass er an und für sich nicht eitel war, aber ein Mann in der Blüte? Das passte im Übrigen auch nicht zu seinem Vokabular, doch es bestand kein Zweifel, dass die SMS von ihm war. Auch das. Wieso konnte er nicht einfach nur einen Kanal verwenden? Sie wechselte noch einmal auf WhatsApp, um das Bild zu betrachten. Hatte er vielleicht diesen kleinen schwarzen Mann im Bild gemeint? Und wenn das eine Blüte sein sollte, dann war dieser schwarze Fleck der Blütenboden, und das was sie für Schlangen gehalten hatte, waren Stempel. Die schönsten, die sie selbst in Großaufnahmen fotografiert hatte, gehörten zu einer Gladiole. Weshalb jedoch mochte er die Stempel derart angeordnet haben, dass sie sich gegenseitig beinahe berührten oder spiegelten? Das Bild verwirrte sie. Zuletzt hatte er hölzerne Würfel aus gleichen Rauten gebaut und sie zu floralen Diamanten erkoren. Die geschlossene Blüte als Würfel mit schmalen Schlitzen. Die aufblühende Blüte als Würfel mit Schlitzen von oben und unten. Die welkende Blüte als offener Kranz aus Rauten. Sie hatte ziemlich lange gebraucht, um diese Werke zu verstehen. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, Pflanzen zu geometrisieren. Sie sah sich nach Blumen um, doch was hier an den Rändern wuchs war nur Unkraut, dessen Blüten in der Hitze längst versengt waren.

der mann in der blüte ist in einem labyrinth aus stempeln gefangen, schrieb sie zurück, wie will er sich befreien?

Pling. Die Antwort kam postwendend.

er ist ein träumer, schrieb er, er schläft hellwach in der blüte. er sieht sonnenstrahlen auf stempel treffen. der raum dazwischen, dieser gefühlte, ist wie ein synaptischer spalt. dies wunder an wandelnder information ist eine leerstelle, ein gedanke, der nichts und alles enthält. alles in der blume wächst diesem strahl entgegen. die blüte ist veranlagt, zu wissen, was sie werden will.

Und wir, fragte sie sich, wissen wir auch, was wir werden wollen? Sind wir als Paar auch Stempel und Sonnenstrahl oder einfach nur zwei alternde, einsame Menschen? Sie hob den Kopf und sah einen Bus davonfahren. Sie würde ohnehin zu Fuß zum Bahnhof zurückschlendern. Jetzt packte sie endgültig den Rucksack auf die Schultern, zog die Schnallen ihrer Sandalen fest und stand auf. Noch immer strömten die Menschen auf diesen Platz, als gäbe es hier keine Nacht. Das Vorwärtskommen war ein permanentes Ausweichen, auch das kam ihr bekannt vor. Sie ging die Via dei Fori Imperiali entlang und als sie an der Piazza Venezia ankam, blieb sie stehen, drehte sich an Ort und Stelle und ließ ihren Blick schweifen. Die ewige Stadt leuchtete hier rot in den Mauern des Foro Traiano und die Pinien davor, diese vom Wind geglätteten grünen Dächer, ließen sie wieder an sein Bild denken. Diese hohen Stämme, die sich in nur wenige Äste verzweigten, schienen ihr dieselbe Bewegung aufzuweisen, wie die Blütenstempel in seinem Bild. Sie machte ein Foto und schickte es ihm. Darunter schrieb sie:

dein mann in der blüte, säße er auf einer pinie, würde er ähnliches wahrnehmen… du malst bewegungen aus einer wahrnehmung heraus, die aus einem ewigen synaptischen spalt zu stammen scheint…

Sie setzte ihren Weg in die Via del Corso fort. Noch einmal wollte sie einen Blick in den Innenhof des Palazzo Doria Pamphilj werfen. Wie eine Oase hatte der Hof mit seinen stahlumfassten Beeten vormittags noch auf sie gewirkt. Die geschlossenen Läden der hohen Fenster schienen nicht nur die Innenräume zu kühlen, sondern den ganzen kleinen Ort zu beschatten. Sie wollte noch einmal dort stehen und die Luft eines Säulengangs atmen. Doch als sie ankam, war das Tor verschlossen. Pling.

wir sind beide kinder der sonne, schrieb er, auch wir sind veranlagt zu wissen, wohin wir wachsen. wir sehen uns in termini.

In Termini? In Endpunkten? Oder meinte er den Bahnhof? Sollte er ihr nachgereist sein? Sie war sich jetzt sicher, dass sie keinen Hinweis hinterlassen hatte, und dass er ihr nachspionierte war völlig ausgeschlossen. Eigentlich schade, dachte sie, und dass sie jetzt enttäuscht war. Das Schlucken fiel ihr augenblicklich schwer. Wie immer in solchen Situationen klopfte sie sich auf das Brustbein und ließ ihre Hand für einen Moment dort liegen. Dann ging sie die Gasse zurück und versuchte, sich zu orientieren. Via Cesare Battisti - war sie von hier gekommen? Rückwege sahen für sie stets derart verändert aus, dass sie sich selten zurechtfand. Sie beschloss, sich auf ihren Instinkt zu verlassen. Die Via Nazionale konnte nicht weit sein.

Sie ging jetzt schneller, achtete nicht mehr auf die Schönheiten der Gebäude und fragte sich nicht mehr, wie wohl die Innenhöfe aussahen. Das eine oder andere Bauwerk mochte ein palazzo sein oder eine Kirche, und dennoch handelte es sich bei allen Gebäuden nur um Körper. Körper. Aus platonischen Körpern sei die Welt aufgebaut, hatte er ihr erklärt. Seine Würfelblumen seien florale Diamanten und im Grunde nicht zu unterscheiden von seinen Bildern, in denen es weder Ecken noch Kanten gab. Geometrische Skulptur und organische Malerei entstünden nur jeweils unter anderem Licht. Seine Werke seien Schatullen für besonderes Licht.

Kurz hob sie den Kopf, der Mond war noch nicht zu sehen, doch die Stadt war immer noch hell. Wir sind beide Kinder der Sonne, dachte sie, und wie gerne sie das glauben würde. Am Ende der Via Quattro Novembre, da, wo sie in den Largo Magnanapoli mündet, blieb sie stehen und sah noch einmal auf das Bild in ihrem Smartphone. Plötzlich las sie das Bild als eine Art Stadtplan. In der linken unteren Ecke hatte er seinen Mann in der Blüte versteckt. Die schwarzen Blütenstempel waren jetzt Straßen. Dazwischen erstreckten sich Gassen, seine synaptischen Spalten. Er hatte ein Labyrinth an Wegen angelegt, dachte sie, und dass nur einer davon zu diesem Mann führte. Roma Termini. Der Mann in der Blüte. Eine Schatulle für besonderes Licht. Die Liebe im synaptischen Spalt. Ihre Augen wurden weit und dann begann sie zu laufen.

Übersicht