Gemälde von Susanne Wenger

SUSANNE WENGER FOUNDATION

Ö1 Kunstgeschichten

"Im Schatten des Bodhibaums" von Sophie Reyer

Die 1915 in Graz geborene Künstlerin Susanne Wenger starb 2009 als Adunni Olurisa in Nigeria, wo sie seit 1950 mit ihrem deutschen Ehemann gelebt hatte. Ihr umfangreiches Werk umfasst Gemälde, Grafiken, Skulpturen, Batiken und vieles mehr. Sophie Reyer nähert sich einem der farbenfrohen Bilder der Yoruba-Priesterin auf literarische Weise. Die Ö1 Erstveröffentlichungsreihe "Kunstgeschichten" widmet sich dem Kunstblick von Autorinnen und Autoren. Redaktion: Edith-Ulla Gasser.

Das erste, woran sie sich erinnert: Fenster. Vorhänge. Eine ausgebreitete Decke in bunten Pastellfarben, auf der ein Ballon und eine weite Wiese zu sehen sind. Diese Farben werden später in ihrem Bild "Im Schatten des Bodhibaums" wiederkehren. Doch davon weiß sie jetzt noch nichts. Sie liegt auf der Decke, tastet sich langsam nach vorne. Der Körper lässt sich nur schieben, er ist ein komisches Bündel. Sie tritt mit den Füßen aus, um voran zu kommen. Die Wände sind nahe, das Rauschen der Autos hinterm Fenster laut. Hin und wieder dringen Sprachfetzen zu ihr herauf.

Dass sie ein Wunschkind gewesen sei, erzählt die Mutter später jahrelang. Sie robbt umher, will nach einem der Gegenstände grabschen, die da so verstreut auf der bunten weichen Decke liegen. Es ist eine lange Reise, bis ihre kleinen Finger es ergreifen: es ist ein Kochlöffel. Holz. Sie wird sich später an ihn erinnern, als Baum. Susanne schüttelt ihn, drückt und knetet ihn. Ob da etwas aus ihm herausschießen könnte, er vielleicht seine Form verändern würde, seine Kontur. Sie lotet ihn aus. Nichts. Neben dem Behälter liegt ein Stoffclown, auch er in Pastellfarben wie die Decke.

Sophie Reyer

KONSTANTIN REYER

Sophie Reyer wurde 1984 in Wien geboren. Sie ist vielfach preisgekrönte Komponistin und Theaterautorin, schreibt Lyrik, Prosa, Hörspiele und Filmdrehbücher, und arbeitet auch als bildende Künstlerin an Visueller Poesie.

Stoffclown, Bodhibaum. Das klingt ähnlich. Wird sie später wissen. Der Clown ist weich, lässt sich leicht mit ihren kleinen dicken Händen zusammendrücken. Aus einem Loch zwischen seinen Beinen hängt eine Schnur, an der sie ziehen kann. Dann beginnt der Clown zu singen. Sein Brustkorb vibriert. Irgendwann beginnt die Spieluhr in seiner Brust zu eiern. Die Schnur ist ausgeleiert, der Clown wird ihr langweilig.

Susanne wird nicht müde, die Gegenstände um sich herum zu erkunden. Es ist ein gefährliches Spiel. Ecken, Kanten. Sie stößt an, fällt um, versteht nicht. Ihr Körper hat noch nicht mit ihr zu tun. Seltsame Füße. Sind ihr fremd. Später wird sie denken, dass es so dem erleuchteten Buddha geht: Der Körper ist vom Ich getrennt. Jedes Kind ist von sich aus erleuchtet. Jetzt aber weiß sie davon noch nichts.

Sie greift nach den Zehen, tastet sie ab, hebt sie in die Höhe. Sie entdeckt immer wieder mit Freude, dass sie sie bewegen kann. Die speckigen Beinchen gehorchen ihr. Sie lassen sich knicken. Ein wenig in die Höhe heben. Sie kann mit den Zehen wackeln. Susanne lacht glucksend.

Auch die Finger sind ihr fremd. Manchmal spielt sie mit ihnen, als wären es Gegenstände. Lässt sie über die Pastelldecke wandern. Alle ihre Glieder sind Schauspieler, sie stellt sie auf die Bühne ihrer kleinen Welt. Sie lässt sich vom Licht der puren Existenz durchströmen, ohne davon zu wissen. Die Welt ist der Wohnzimmerboden. Sind die Fenster. Ist das gebauschte Sofa. Ist die weite Landschaft der pastellfarbenen Decke.

Die Finger lassen sich drehen, bäumen sich nach ihrem Willen auf. Später beginnt sie, sie zu füttern. Singt ihnen etwas vor. Erzählt den Füßen, brabbelt. Gibt ihren Kniekehlen zu trinken. Manchmal kommt die Mutter vorbei. Susannes Kopf läuft auf Hochtouren, sie muss die Dinge angreifen, begreifen, sortieren.

Pippa Galli ist Wienerin des Jahrgangs 1985 und Tochter von Schauspielereltern. Mit sechzehn Jahren brach sie die Schule ab, ging ans Theater und fand ihre Berufung auf der Bühne und im Film. Außerdem ist sie Sängerin, sie schreibt seit 2012 ihre eigenen Songs. Das Debütalbum "Superland" erschien im Jänner 2019.

"Baum", sagt die Mutter, und deutet auf einen braunen Stab, der auf die Bettdecke gemalt ist. An dessen Kopfende ragt ein Bündel kleinerer Stäbe heraus, grün an den Spitzen. Baum. Susanne versteht erst später. Baum gefällt ihr. Aber sie kann nicht danach greifen. Baum lässt sich hier nur in Form einer Decke in den Händen zusammenraffen, in die Fäuste knüllen.

Hinter dem Fenster verändert sich das Licht, jeder Tag ist dicht. Die Mutter scheint sich zu freuen sie zu sehen, wie sie nach dem Baum greift, ihn in den Händen zusammensammelt. Die Mutter beugt sich hinunter, sie riecht gut. Manchmal, wenn Susanne sich an den Gegenständen stößt und ein fremdes Gefühl in ihr aufsteigt, wenn sie zu plärren beginnt, weil sie nicht weiß, wohin, nicht weiß, was das ist, dieses Zuviel an Licht, an Pastellfarben und an Welt, dann kommt es ihr vor, dass die Mutter noch trauriger ist als sie. Das ist nicht gut. Sie versucht, es der Mutter nicht zu schwer zu machen.

Ruhe hilft. Das Programm in ihrem Kopf braucht Entspannung, muss die Bilder sortieren, die Geräusche, den Ablauf der Bewegungen. Sie ist sehr müde. Sie schläft lange. Die Tage strengen sie an.

Später erinnert sie sich. Wie hinter einem Schleier tauchen die Bilder auf, manchmal, plötzlich. Eine Kindheit in Pastellfarben, unter dem Baum der Mutter Güte, die eine Art Buddhabaum ist. Das gestaltet sich so: Die Mutter schiebt sie in einem Wagen umher, Froschperspektive, das Knirschen von Kies unter den Rädern. Manchmal ruckelt es. Sie gehen durch Alleen hindurch. Baum, sagt die Mutter. Susanne schiebt den Oberkörper ein wenig nach vorne, greift nach einer braunen Oberfläche. Aber sie ist nicht weich, lässt sich nicht zusammenrollen mit den Fingern wie der pastellfarbene Deckenbaum. Baum ist hart, braun, gerillt. Susanne tun die Fingerkuppen weh. Sie schreit, drückt die Augen zusammen. Aber als sie den Kopf in den Nacken legt: Atemmoment. Sie holt tief Luft. Ein verzweigtes Netz in Grün- und Brauntönen, durch dessen Ritzen Sonnenlicht hindurchflimmert. Leicht bewegen sich die Blätter, wippen hin und her. Ihr hängt die Zunge aus dem Mund. Die Mutter zieht Susanne die Haube tiefer ins Gesicht hinein, schiebt den Wagen weiter. Ihr Körper ruckelt. Sie kann aber nicht mehr aufhören, die Krone anzustarren, dann den Ast. Baum kann also hart sein, riesengroß. Baum macht Geräusche. Rauschende, raschelnde. Ihr Hirn auf Hochtouren, sie versucht, die Verbindungen herzustellen.

Als Susanne zur Seite blickt, sieht sie überall: Baum. Aufgefädelt zu allen Seiten hin, am Rande des Kieswegs, grünende Alleen. Die Mutter rollt sie weiter, rollt sie in einen Wald hinein, gähnt ein wenig. Überall: Baum. Eine singende, klingende Existenz. Babyblauer Himmel.

"Wald", sagt die Mutter. Was. Susanne versteht nicht. Hieß das doch eben noch Baum. Sie streckt ihre Hände aus. Das Geräusch eines Raben, das Licht fällt in hellen Stäben durchs Blätterdach. Irgendwann schläft sie vor lauter Erschöpfung ein.

"Du bist ein Wunschkind", sagt die Mutter jeden Tag. Und so bleibt sie Buddha, lange Zeit. Und kehrt auch am Ende malend in den Schatten des Boddhibaums ein, wieder.

Jetzt aber wird sie groß, langsam wachsen sich ihre Beine aus, ihre Haare, Hände. Susanne beginnt zu gehen. Die Großmutter ist lustig, sie hat kastanienbraunes Haar und viele Lachfältchen um die Augen. Ihr Hals ist ein wenig verknitterter als der der Mutter.

Wurzelig sind die Wege am Hilmteich. Kaulquappen schwimmen im klaren Wasser umher. Susanne sieht die wuseligen Schwänze, die komischen Körper. Flink bewegen sie sich im Wasser, stiemen auseinander, kleine bewegte Wölkchen. Dass daraus Frösche werden, verrät die Großmutter. Und die schleimigen Patzen heißen Laich. Seerosen reiten auf der Oberfläche. Rosige Welt in Pastell, Kindheitswelt.

Neben dem Teich ein verzweigter Baum. Er ruft Susanne. Vielleicht so, wie der Bodhibaum einen Buddha ruft. Und sie klettert. Klettert zwischen das Geäst, schält sich aus dem Blätterwerk, als sie bei der Spitze des Baumes ankommt. Oder sie verkeilt sich mit den Kniekehlen an einem Ast und lässt den Kopf nach unten baumeln. Wie das Haar hängt. Wie der Kopf und die Hände sich lasch anfühlen. Das Blut in die Schläfen hinein pocht, stärker und stärker. Das ist die Dichtigkeit der Welt. Da ist sie eins mit der Allheit. Susanne baumelt mit ihrem Körper hin und her. Die Füße stecken in violetten Kordhosen und hellblauen Gummistiefeln, die Jacke hat einen Reißverschluss, der sich mit lustigen Geräuschen auf- und zu zippen lässt. Das macht sie manchmal, während sie im Herzen des Baumes hockt und spielt, dass sie fliegt. Auf den Ästen wippt. In die Wolken schaut.

Gemälde von Susanne Wenger

SUSANNE WENGER FOUNDATION

Es ist eine Aufgabe, die Krone zu erklimmen. Die Beine sprechen mit der Rinde, spüren ihre Unebenheiten auf. Mit den Füßen ins Nichts hinein zu schlenkern macht kleine Hüpfer im Bauch.

Später spaziert die Großmutter mit Susanne den Waldweg entlang. Baumstümpfe. Sie stellt sich auf einen hinauf, spielt Statue. Ist dann eine eingeschlafene Prinzessin. Und die Großmutter muss sie umarmen, sie wach küssen und vom Holz herunterheben. Wenn der Wald aus vielen Stümpfen besteht, bekommt sie viel Liebe, das ist ihr Recht. Dann lacht sie. Das ist das Leben, in hellen Farbtönen.

Beim kleinen Holzhaus darf sie sich ein ovales rotes Eis von der Theke holen, das am Gaumenzäpfchen klebt. Nach Sommer schmeckt es außen, und je weiter sie sich vorarbeitet, desto tiefer dringen die Zähne in eine Schicht aus Milch ein. Am Ende bleibt ein Holzstiel übrig. Baum. Der Rest von Baum, denkt Susanne. Sie leckt den Stiel ab, immer wieder. Pickige Finger, irgendwo singt ein Vogel. Sie wird ihn in ihr Bild malen, später. Jetzt aber nichts als: Liebe. Kindergeschrei.

Baum. So vergehen die ersten Jahre. Ohne Anfang ist der See in diesen Kindheitstagen. Natur wird auch später ihr Zufluchtsort sein. Im Sommer die Kornfelder zerwühlen, in denen alles blüht. Abends flammt das Wasser auf in Sonnenglut. Der Himmel trägt rosiges Licht. Pastellhimmel. Der Himmel ist der Schatten eines hellen Baumes. Susanne wünscht sich dann eine Brücke, die sich über den Teich hin spannt und bis hin zur untergehenden Sonne reicht. Eine leichte Brücke, ausgeschnitten aus Papier.

Vielleicht kann man damit die Sterne erreichen? Sie sieht Konturen, sieht Farben. Sieht Bäume, im hellen Leuchten ineinander verschwunden. Der Bodhibaum, wird sie später wissen. Der Ort der Erleuchtung.

Jetzt aber ist sie nur Kind und die Welt klingt. Klingt so, wie sie später zeichnen wird. Wenn sie in der Dämmerung vom Teich heimgehen, träumt die Landschaft in der Stille des Abends. Der Staub des Sommers hängt vom Himmel und einzelne Bäume schneiden am Horizont in den Rand der Sonne. Dann die Welt in Schatten. Sie freut sich auf den Nachthimmel. Bleich und stumpf ist der letzte Lichtschimmer. Der Waldboden federt, bis sie das Zuhause erreichen.

Dicht am Morgen die Luft, und alles ruft nach ihr: Götterkind, Kind im Wind! Rundherum babyblau der Himmel, rosig getränkt die Wolken, Zuckerwatte. Susanne will einatmen, einatmen als gelte es das Leben. Der Vogel über ihrem Kopf fliegt in langen, sich hochschraubenden Schüben. Seine Flügelschläge sind Stöße, die er der Luft gibt. Sie malt ihn, schon jetzt, nimmt das Malen vorweg. Vogel über Baum. Die Freiheit. Sie selbst ist der Vogel.

In Afrika werden ihr Kormorane begegnen, später. Riesige Flugtiere, die sie lieben wird. Jetzt träumt sie sie vor. Reitet in Gedanken auf ihnen. Als Kind. Eine runde Welt. Sie weiß alles, was passieren wird. Das Dasein ist aufgehoben bei sich.

Manchmal aber kommt nachts die Angst. Warum diese Traurigkeit? Als Susanne abends vom Teich heimkehrt und an der Seite der Mutter den Kiesweg entlang schreitet, der durch den Garten zum Haustor führt, ist das Geräusch unter ihren Füßen zu laut, zu dicht. Gar nicht pastellig. Eine Überforderung an Welt.

Susanne mag den Herbst nicht. Im Herbst wird die Helligkeit launischer, und auch der Wind. "Gelb ist die Farbe meiner Liebsten Haare", beginnt die Mutter zu singen und hebt Susanne hoch. Auch Susanne hat gelbe Haare. Also: helle. Mit einem Mal ist die Luft voll von ihrem Haar.

Die Mutter erzählt. Von einem Baum, unter dem ein Mann eins geworden ist mit der Existenz. "Das war der Bodhibaum", sagt sie, und in Susannes Kopf springen die Bilder auf, werden hell und schön. "Was ist ein Bodhibaum? " "Ein Bodhibaum ist eine Pappelfeige. Ein Pipala-Baum, er wächst und wird sehr hoch." Susanne staunt. Später, in Afrika, wird sie viele solcher Bäume sehen.

"Der Name bedeutet 'Baum des Erwachens'. Buddhisten nennen ihn so, weil ihr Lehrer Buddha unter einem solchen Baum die Erleuchtung gefunden hat." "Erleuchtung, was ist das?" "Das ist Einssein mit Allem."

Susanne überlegt. Einssein mit allem. Ist man das nicht ohnehin? Nur nicht, wenn die Nacht heranschleicht so wie jetzt. Später im Bett zählt Susanne die Flügelschläge der Nachtfalter, die ihre Schatten an die Wände werfen. Ein Aderwerk aus kleinen Rissen zeichnet die Zimmerdecke über ihr, sie zählt die Sprünge, verfolgt sie mit den Augen, malt sie in Gedanken ab, bis sie schlafen kann. Das aber dauert.

Von draußen kriecht die Dämmerung herein. Irgendwann schieben sich Fratzen aus dem Dunkel, aus der Zimmerdecke. Vielleicht gibt es ja doch Geister? In solchen Abenden kriecht die Zukunft in sie hinein. Gegenwart, Vergangenheit und Kommendes scheinen ineinander zu stecken wie verfilzte Haare. Susanne träumt. In ihren Träumen sind Farben, Kaleidoskope aus Welt und Licht. Sie nimmt die Ereignisse vorweg: den Krieg, ihre Zeit in Afrika, in einem fremden Land. Malen wird sie da, mit ihren Händen, aber ganz so, wie sie es im Moment in ihrem Kopf tut. Den Bodhibaum wird sie malen: eine weiße schöne Hand, die sich auffaltet zwischen Einsprengseln aus farbigem Funkeln. Der Baum wird eine Hilfe sein gegen den Abend und gegen Kieswege, die laut sind. Wird von der Allheit erzählen, von der All-Einheit. Dass Susanne nicht länger allein ist. Baum.

Aber noch ist sie klein, auch wenn sie ihr ganzes Leben vorweg träumt und sich in Pastellfarben vormalt. So legt sich Susanne nieder. Kehrt ein in die Welt des Traumes, der ihr Raum gibt, nach und nach. Zu sich selbst finden. In der Kindheit verhaftet sein. Susanne schläft ein, und im Schlaf ist sie wieder Buddha. Ist Wunschkind. Ist Ei in der Welt. Ist ein großer, träumender Baum. Bodhibaum.

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