Eisberge in der Nähe von Kulusuk, Grönland

AP/FELIPE DANA

Lebenskunst

Weisheiten und Botschaften der Inuit

Grönland erwärmt sich doppelt so schnell wie andere Weltgegenden. Dort, auf der größten Insel der Welt, ist Angáangaq Angakkorsuaq, ein Schamane aus der Volksgruppe der Kaláallit, aufgewachsen. Wie alle Inuit und weitere zahllose Menschen weltweit sind die Kaláallit vom rasanten Ansteigen des Meeresspiegels schwer betroffen. Angesichts der großen ökologischen Krise hat sich Angáangaq aufgemacht, um der Welt die Weisheit und spirituelle Botschaft seines Volkes näherzubringen. Ein Einblick in die alten Traditionen und modernen Probleme der Arktis.

„Die Menschheit hat in Zeiten wie diesen auch eine spirituelle Verantwortung - gegenüber den Tieren, Pflanzen und der ganzen Umwelt“, sagt Angáangaq. Sein Name bedeutet "der Mann, der aussieht wie sein Onkel". Aus seiner Familie sind immer wieder Schamanen, also spirituelle Führungsfiguren und Heiler, hervorgegangen. In seiner Tradition sammelt sich alles Wissen bei den Ältesten der Gruppe.

Angáangaq Angakkorsuaq

Angáangaq Angakkorsuaq

ICEWISDOM/SVEN NIEDER

Mittlerweile zählt er selbst, der freundliche Mann mit den weißen Haaren und dem gepflegten Bart, ebenfalls zu den Ältesten. In seiner Jugend wurde Angáangaq zum „Läufer“ ernannt. Auf dem Landweg oder mit dem Kajak ist er von Dorf zu Dorf gereist und hat Nachrichten überbracht. Bald hat ihn seine Volksgruppe weiter in die Welt hinausgeschickt und schlussendlich ist er auch bei den Vereinten Nationen gelandet. Er sollte die unheilvolle Botschaft des Klimawandels verbreiten. Denn das Volk der Kaláallit aus Grönland kennt eine alte Prophezeiung:

"Wenn eines Tages das einst steinharte Große Eis so weich wird, dass du ihm keinen Abdruck deiner Hand einprägen kannst, dann wird das ein Zeichen dafür sein, dass Mutter Erde in großem Aufruhr ist."

Inuit-Robbenjäger auf einer Eisscholle

AP/JOHN MCCONNICO

Heute ist klar: Grönland, autonomer Teil Dänemarks, erwärmt sich doppelt so schnell wie andere Weltgegenden. Schon in den 1960er Jahren habe man das gemerkt, erzählt Angáangaq.

Der schmelzende Eisschild Grönlands hat den weltweiten Meeresspiegel in den vergangenen 18 Jahren um mehr als eineinhalb Zentimeter steigen lassen. Seit damals sind etwa 3.800 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen und ins Meer geflossen, schreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Fachzeitschrift "Nature". Wenn das Grönland-Eis weiter so schmilzt, könnte der Meeresspiegel noch in diesem Jahrhundert um bis zu 20 Zentimeter steigen.

"80 Prozent von Grönland sind mit Eis bedeckt. Noch. "

"Als ich vor mehr als 70 Jahren geboren wurde, war diese Eisschicht durchschnittlich noch fünf Kilometer dick, heute sind es weniger als zwei. Das ist der Ground Zero des Klimawandels. Es schmilzt so schnell, dass bald auch Venedig und, ja indirekt auch, Österreich bedroht sein wird“, sagt der Schamane.

Lange Zeit hat er keine Bäume gekannt, heute wachsen in seiner Heimat auch arktische Weiden und andere, neue Pflanzen, für die seine Volksgruppe noch gar keine Namen hat. Für die Kaláallit hat sich in extrem kurzer Zeit extrem viel verändert.

In der spirituellen Tradition der Kaláallit spielen verschiedene Geistwesen und Gottheiten, wie zum Beispiel die Meeresgöttin Sedna, eine Rolle. Diese Tradition sei in Grönland in Vergessenheit geraten, aber nun gebe es immer mehr junge Menschen, die sie neu beleben, mit Sonnen- und Mondfeiern oder wenn die Söhne der Familien den ersten Fisch fangen.
Die Eisschicht sei bereits so dünn, dass viele Dörfer mit den Hundeschlitten nicht mehr gut erreichbar seien, sagt der Schamane. Und der Seegang sei oft so schwer, dass man sie auch mit dem Boot nicht erreiche. Angáangaq kann einige seiner Familienmitglieder daher nicht mehr regelmäßig besuchen.

"Jeder kann helfen - auf körperlicher, emotionaler, psychologischer, spiritueller Ebene."

Angáangaq möchte den Menschen in Europa, im sogenannten Westen, ins Gewissen reden: "Die Verbindung mit uns selbst und mit den Mitmenschen ist das Wichtigste auf der Welt. Wir wissen außerdem nichts mehr über Tiere - außer vielleicht über Katzen und Hunde. Aber es gibt unzählige Tierarten, die derzeit vom Aussterben bedroht sind. Aber wir können ohne Tiere nicht leben. Mit den Pflanzen ist es genauso – trotzdem zerstören wir die Artenvielfalt."

Jahrzehnte lang war der mittlerweile über 70 Jahre alte Schamane weltweit unterwegs, um auf großen Konferenzen und vor mächtigen Organisationen und Politikern vor den Folgen des Klimawandels zu warnen. Vergeblich. Bisher habe sich nichts geändert, meint Angáangaq. Immer noch gebe es keine für alle Staaten verpflichtenden Maßnahmen, um die Zerstörung der Umwelt zu stoppen. Deshalb hat er seine Strategie gewechselt. Er adressiert jetzt jeden oder jede Einzelne:

"Wir müssen lernen zu handeln. Was passiert mit den Menschen in Bangladesch oder an den afrikanischen Küsten oder auf den pazifischen Inseln? Sie werden ihre Heimat verlieren. Wir können sie nicht ertrinken lassen. Wir müssen etwas tun. Das ist die spirituelle Verantwortung, die jeder hat."