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Eine spirituelle Gebrauchsanweisung für das Leben in Isolation
Ordensleute haben seit 1500 Jahren Erfahrungen mit dem Leben in Isolation, wenn auch ohne Virus und Todesgefahr. Aber sie leben tagein tagaus mit ihren Mitschwestern und -brüdern in Klausur auf engstem Raum. Der Benediktinermönch Anselm Grün möchte sich an alle Menschen wenden, die durch die Corona-Krise aus dem Gleichgewicht geraten sind.
19. Mai 2020, 02:00
Anselm Grün, Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, Theologe, geistlicher Begleiter und Kontemplationslehrer, hat schnell reagiert: Bereits am 24. März ist sein neues Buch "Quarantäne - eine Gebrauchsanweisung" veröffentlicht worden.
"Ich glaube zutiefst, dass wir alle in solch einer Situation zusammenhalten müssen, dass wir uns solidarisch zeigen müssen, dass wir uns unterstützen und teilen müssen."
An seinem Leben im Kloster habe sich seit dem Ausbruch der Pandemie nicht viel verändert, sagt der 75-jährige Benediktiner. Nur: Die Mönche halten jetzt beim Essen und beim Chorgebet mehr Abstand. Sich selbst auszuhalten, in der eigenen Zelle, sei für ihn sowieso eine lebenslange spirituelle Übung.
Und dennoch treiben ihn derzeit viele Fragen um, schildert er: „Eine spirituelle Frage ist für mich vor allem sich selbst aushalten zu können und nicht davon zu laufen, wir haben ja sonst viele Möglichkeiten vor sich selbst davonzulaufen. Die zweite ist die Barmherzigkeit zu spüren, dass ich all das, was in mir hochkommt, zulassen kann, weil ich weiß, dass ich von Gott bedingungslos angenommen bin. Und ein anderes Thema ist, wie gehe ich mit Angst um. Da ist der Glaube auch eine Hilfe, diese Angst zuzulassen und trotzdem zu spüren, dass ich in Gottes Hand und eben nicht nur mit meiner Angst konfrontiert bin.“
Was will Gott der Menschheit sagen?
Anselm Grün warnt vor vorschnellen Schlüssen. „Es ist schon wichtig, dass wir versuchen die Zeichen der Zeit zu erkennen, auch Jesus sagt das. Aber wir wissen nicht genau, was Gott mit uns vorhat, wir können nur schauen, was der Sinn sein könnte und wie wir damit umgehen sollen. Es ist eine Herausforderung, unser ganzes Wirtschaften, unsere Mobilität und unseren Lebensstil in Frage zu stellen und zu sagen, haben wir uns ein Stück übernommen, haben wir die Gier übertrieben, haben wir den Kosmos ausgebeutet. Aber diese Fragen sollten wir uns stellen.“
Ihm gehe es nicht darum, eine Krise, die massive politische und wirtschaftliche Auswirkungen hat, theologisch zu überhöhen, sondern darum, eine geerdete Spiritualität zu vermitteln. Das war auch sein Motiv, das Quarantäne-Buch zu schreiben: „Für mich ist wichtig, dass ich die Realität annehme und das Beste daraus mache. Spirituell heißt für mich, dem einen Sinn zu geben. Aber es ist nicht wichtig, einen Überbau und fromme Sätze zu geben, die dann mehr vertrösten, statt zu trösten. Trost heißt eben Treue, stehen bleiben. Ich möchte bei den Menschen stehen bleiben und auf sie hören, um ihnen dann Antworten zu geben auf ihre Fragen. Nicht ohne die Fragen zu hören, schon Antworten zu geben.“
Die Regula Benedicti
Viele seiner Vorschläge und Ratschläge für ein gelingendes oder zumindest leichteres Leben in Isolation leitet er aus der sogenannten Regula Benedicti ab, der Benedikts- oder Benediktinerregel. Sie wurde von seinem Ordensgründer Benedikt von Nursia im sechsten Jahrhundert festgehalten. Im Prinzip handelt es sich dabei um einen Katalog von Regeln für die Bewohner des damaligen Gemeinschaftsklosters Monte Cassino. Die Benediktsregel enthält drei Kriterien für ein gelingendes, friedliches Zusammenleben.
"Man achte genau darauf, ob der Novize wirklich Gott sucht, ob er Eifer hat für den Gottesdienst, ob er bereit ist zu gehorchen und ob er fähig ist, Widerwärtiges zu ertragen."
Gotteseifer, Gehorsam, Demut - was für heutige Ohren fremd und überzogen klingen mag, habe mit konkreten Charakterzügen, Eigenschaften und Handlungen zu tun, sagt Anselm Grün, die auch heute noch relevant sind.
„Eifer für den Gottesdienst haben heißt nicht nur auf die Krise fixiert sein, sondern offen sein für Gott. Wenn ich das Ganze im Licht Gottes sehe, ist es nicht mehr so belastend. Gehorsam heißt sich auch einmal an die Regeln halten, die von außen gegeben sind, aber Gehorsam kommt auch von Hören, dass wir aufeinander besser hören. Was sind die Bedürfnisse und Nöte meiner Kinder, meines Ehepartners? Und mit Widrigkeiten gut umgehen, heißt sich nicht als Opfer zu fühlen. Wenn ich mich als Opfer fühle, werde ich aggressiv und unzufrieden oder bitter. Ich soll also aktiv bleiben und aus dieser Situation, die ich mir nicht ausgesucht habe, etwas Gutes machen.“
Pater Anselm Grün rät dazu, Rituale in den Alltag der Isolation einzubauen - "als Geländer für die Seele". Auch religiöse Rituale eignen sich zum Entdecken und Wieder-entdecken meint er: „Das kann das gemeinsame Morgengebet sein oder auch eine Segensgebärde. Dass zum Beispiel der Vater oder die Mutter die Hände hebt und einen Segen über die Familie strömen lässt – dass man in gesegneten Räumen lebt, dass die Kinder gesegnet sind. Und am Abend kann man den Tag Gott übergeben. Der Tag ist wie er ist, man kann ihn nicht mehr verändern. Aber man kann darauf vertrauen, dass Gott ihn in Segen verwandeln kann.“
"Die Griechen sagen: Nur das Heilige vermag zu heilen. Die heilige Zeit ist daher immer auch eine heilsame Zeit. In der heiligen Zeit, da bin ich in der Ruhe und die Ruhe ist in mir."

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ORF/JOSEPH SCHIMMER
Anselm Grün rät auch dazu, sich Freiräume zu schaffen, Nischen, Rückzugsorte. „Wenn man eine große Wohnung hat, ist es sicher gut, einen Raum mit einer Gebetsecke zu haben, in den man sich zurückziehen und still und spirituell sein kann. Wenn die Wohnung zu klein ist, kann auch eine gemeinsame Schweigezeit so ein Raum sein, wo dann jeder allein in seinem Sessel sitzt und nur für sich ist. Oder man stellt eine Kerze oder ein religiöses Bild auf, um auch angeschaut zu werden, um in Beziehung mit Gott und nicht nur mit sich selbst konfrontiert zu sein.“
Er selbst hat sich in seiner Mönchs-Zelle auch eine solche Ecke eingerichtet.
„Die Mönche sagen, die Zelle kann zum Himmel werden. Wenn ich mir vorstelle, ich bin nicht allein, sondern mein Zimmer ist von Gottes Gegenwart erfüllt, dann erlebe ich mich anders, dann ist die Zelle kein Gefängnis, sondern ein Raum, der mich – für Gott - öffnet, und in dem ich aufatmen kann.“
"Ich muss das Gefühl haben, mich dorthin begeben zu können, und in eine andere Realität einzutreten. Als würde ich die Enge, die mich manchmal bedrückt, verlassen und in einen Raum der Weite eintreten."
Besonders wichtig - für Familien, Paare oder Wohngemeinschaften - sei, ein gesundes Verhältnis von Nähe und Distanz zu schaffen.
„Wenn man zu nahe zusammen ist, gibt es einfach Aggressionen. Und Aggressionen wollen mir immer sagen, dass ich mehr Abgrenzung brauche, etwas für mich tun muss. Das ist ganz wichtig. Wie gelingt das, wenn man in einer engen Wohnung ist? Zum einen mit Spazierengehen, zum anderen vielleicht mit einer Schweigezeit - eine Stunde, in der man wirklich nicht gestört wird. Außerdem sollte man dem Tag eine gute Struktur geben.“
Corona hat den Menschen gezeigt, dass sie im Negativen wie im Positiven voneinander abhängig sind: Sie können einander mit einem Virus anstecken, aber auch mit Energie, Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und Liebe. Und die Situation führe auch die eigene Begrenztheit vor Augen, sagt der Benediktiner Anselm Grün.
„Wichtig ist mir aber, dass ich die Krise als Herausforderung sehe und Lust habe, darin zu agieren, statt ins Jammern zu verfallen. Ich kann nicht alles so machen wie ich will, aber ich kann aus dem, was mir widerfährt, etwas gestalten. Das ist für mich auch das Geheimnis von Ostern, von Tod und Auferstehung, dass alles verwandelt werden kann. Dass die Dunkelheit vom Licht erleuchtet wird, dass das Kreuz in Auferstehung gewandelt wird, die Erstarrung in Lebendigkeit und das Scheitern in einen neuen Anfang.“