Cécile Wajsbrot

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Literatur

"Zerstörung" von Cécile Wajsbrot

Ist der Mensch fähig, aus den Fehlern der Geschichte zu lernen? Können Intellektuelle, lesende und schreibende Individuen zur gesellschaftlichen Veränderung und Vitalität etwas beitragen? Und welche Verantwortung tragen Anhänger/innen der Vita contemplativa in einer Diktatur? Derlei Fragen knistern im neuen Roman von Cécile Wajsbrot mit dem Titel "Zerstörung".

Die 1954 geborene Autorin und Übersetzerin, Tochter polnischer Juden, die vor den Nazis nach Frankreich geflüchtet waren, arbeitete als Lehrerin und Rundfunkredakteurin und lebt heute in Paris und Berlin. Zuletzt erschien ihr Roman "Eclipse", in dem es ebenso wie in "Zerstörung" um das Aushandeln von Vergangenheit und Zukunft geht.

Mein Leben habe ich - hatte ich - den mit Lesen oder Schreiben verbrachten Stunden des Rückzugs gewidmet. Ich hatte geglaubt - ich glaubte -, die Welt sei nur auf diesen von mir nach und nach in einer Mischung von Ungeduld und Erwartung durchblätterten Seiten wirklich existent. Dieser besondere Zustand, diese Lebensweise, nannte sich Literatur.

Schriftstellerin in einer veränderten Welt

Die Stimme, die hier spricht, gehört einer Frau Anfang Vierzig. Schriftstellerin, sie lebt allein, lebt in Paris und sie ist die Ich-Erzählerin des neuen Romans von Cécile Wajsbrot. Eine literarische Existenzform, wie sie sie beschreibt, kommt für sie gegenwärtig nicht mehr infrage. Die Welt hat sich verändert und die Ich-Erzählerin forscht, was sie selbst dazu beigetragen hat. Man sollte Wajsbrots Text nicht unbedingt Roman nennen. Denn er beschreibt eine Zeit, dem ein Roman nicht mehr entspricht. Es geht um die Zerstörung von Kontinuität und Komposition, das Auslöschen der Tradition, um das tastende Sprechen nach Ende des Schreibens.

... wir haben Sie ausgewählt, weil Sie die Wörter kennen.

Und nun verlangen Sie von mir zu reden. Eine mündliche Erzählung abzugeben, ich soll gedankenlos hingesagt Wörter aufzeichnen, ohne Verbesserungen, stellen Sie sich eine Radiosendung vor, haben Sie gesagt, wir haben Sie ausgewählt, weil Sie die Wörter kennen. Sie enthalten Ideen, Gedanken, das ist ja genau, was wir wollen.

Logbuch in Tönen erstellen

Die namenlose Schriftstellerin bekommt nachts einen Anruf von einem ihr unbekannten Mann. Ohne sich vorzustellen, ohne einen Grund anzugeben, animiert er sie, eine Art Sound-Blog zusammenzustellen. Darin sollen ungefiltert Erlebnisse und Gedanken festgehalten sein, Beobachtungen vom Tag, was der Schriftstellerin durch den Kopf geht, was sie beschäftigt. Dieses "Logbuch in Tönen" soll sie dem Unbekannten als Datei schicken. Das sei ein Experiment, auch ein Geheimnis, sie dürfe zu niemandem davon sprechen, fordert er.

Es überrascht im ersten Moment, dass die Ich-Erzählerin diesem seltsamen und auch bedrohlichen Ansinnen nachgibt. Denn man weiß nicht, ob der Mann zu einer Widerstandsgruppe oder zur Geheimpolizei gehört.

Ich rede zu ihnen mitten in der Nacht. In der Leere, die entstanden ist, in der Stille, die sich ausgebreitet hat.

Ich kann nicht sagen, dass ich eine Überlebende inmitten von Ruinen bin, die anderen sind nicht tot, es gibt keine Ruinen, und doch habe ich ein solches Gefühl.

Hohe Musikalität, stille Eindringlichkeit

Die Einsamkeit, die Entfremdung von ihrem Alltag lässt die Frau sprechen. Und ein Gefühl der Schuld, des Zweifels, der Suche. Des Aus-der-Zeit-Gefallen-Seins. "Zerstörung" ist ein intimer und bedrängender Monolog, der einen in seiner hohen Musikalität und stillen Eindringlichkeit nahezu körperlich ergreift.

Cécile Wajsbrot entwirft eine nächtlich-düstere, klaustrophobische Szenerie. Die ehemalige Welt der Erzählerin, die der unseren stark ähnelt, ist zerstört worden. Sie lebt in einem "Danach". Nicht in kriegerisch verwüsteter Landschaft, sondern unter einer Regierung, die sie selbst und andere mit an die Macht gebracht haben. Ohne die Konsequenzen abzusehen. Neuanfang, Aufbruch, ein "Frühjahrsputz", eine Zukunft, waren das Versprechen gewesen. Nach der "Machtübernahme" aber sterilisierte die neue Regierung die Innenstädte, verbot das Verharren im öffentlichen Raum, schaltete Medien gleich, kontrollierte die Grenzen, und verordnete der ganzen Gesellschaft ein flächendeckendes Hygiene-und-Wellness-Programm.

Von den alten Werken war nur die reine Unterhaltung - das Lachen - übriggeblieben

Der Inhalt der Stücke, Filme, Kompositionen und Bücher hatte sich geändert. Von den alten Werken war nur die reine Unterhaltung - das Lachen - übriggeblieben, und fortan wurde die getreue Wiedergabe der Gegenwart begünstigt. Der Eintritt zu den Museen ist umsonst, aber drei Viertel der Werke sind verschwunden. In den ehemaligen Theatern veranstalten sie fortan Meetings und Festlichkeiten.

Buchcover

WALLSTEIN VERLAG

Was älter als zehn Jahre ist, wird vernichtet

Cécile Wajsbrots Dystopie ist so bedrückend, weil ihre Versatzstücke sehr realistisch erscheinen: Gedenktafeln werden abmontiert, Fremdsprachenunterricht ist untersagt, die Vergangenheit wird zum Gefängnis erklärt. Kein Shakespeare mehr, kein Buch von Virginia Woolf, kein Gedicht der Achmatowa oder Zwetajewa, keine elektronische Musik, nicht Pink Floyd, nicht Bach. Alles, was älter als zehn Jahre ist, lässt die neue Regierung vernichten: Bücher, Kunstwerke, Kompositionen, Gebäude, Familienfotos.

Der Zeitablauf ist einfach, sagten sie: eine gerade Linie, die in die Zukunft führt und als Ausgangspunkt die Gegenwart hat.

Die Vergangenheit einer ganzen Gesellschaft - ausradiert. Die Erzählerin notiert Erinnerungen daran, was ihrem Leben Bedeutung gegeben hat. Sie bezeugt die Existenz von Künstlern und ihren Werken. Aber fragt auch, wie es zur gegenwärtigen Situation kommen konnte. Im Nachhinein nun versteht sie die Zeichen, die sie vorher hätte lesen können: Ermüdungserscheinungen, Dekadenz, Überdruß, Angst, Hedonismus und Ignoranz hatten sich spürbar und sichtbar ausgebreitet.

Noch - oder wieder - engagiert sich jemand für die Freiheit der Kunst

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nutzt die Erzählerin auch zur Selbstbefragung. Die fünf Kapitel von Wajsbrots Buch stehen in der Tradition von Pascals "Pensees". Es geht um eine Bestandsaufnahme der eigenen Existenz und eine Diagnose des Zustandes, in welchem sich die Menschen in Europa befinden. Im Akt des Sprechens zeigt die Ich-Erzählerin einen hellen Horizont auf. Noch - oder wieder - engagiert sich jemand für die Freiheit der Kunst, für selbstbestimmtes soziales Leben, für ein fruchtbares Bedenken der Vergangenheit. Wie ein Appell wirkt dieser Text: lasst nicht zu, dass zerstört wird, was euch ausmacht, werdet nicht müde, zu schätzen, was ihr noch habt. Nur so können wir eine menschenwürdige Zukunft bauen.

Ich bin nicht die Einzige, sehen Sie. Jeder braucht den Verweis auf die Vergangenheit. Das ist keine Nostalgie, es ist das notwendige Gefühl unserer Kontinuität.

Service

Cécile Wajsbrot, "Zerstörung", aus dem Französischen von Anne Weber, Wallstein Verlag, 229 S.

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