Frau mit Mundschutz schaut aus dem Fenster

AP/LUCA BRUNO

Radiokolleg

Globaler Ausnahmezustand - Das wirtschaftliche Nachbeben

Sparen, sparen, sparen: Das war in den letzten Jahren in vielen Ländern der Welt das Leitmotiv staatlicher Budget- und Finanzpolitik. Damit ist es jetzt vorbei. Ob in den USA, in Großbritannien, Japan, Australien, Indien oder den Ländern der EU: Überall werden zur Zeit Milliarden und Abermilliarden in den Wirtschafts-Kreislauf gepumpt, um einen Zusammenbruch der globalen Ökonomie zu verhindern.

Und das wird im Herbst so weitergehen. Mehr privat, weniger Staat: Das war einmal. Der Staat ist als machtvoller Akteur zurück auf der wirtschaftspolitischen Bühne.

Mit „Business as usual“ werden wir nicht mehr weiterkommen, davon zeigt sich die Wirtschaftswissenschaftlerin Friederike Spiecker überzeugt. Aber wie sollen die Schulden, die auf diese Art entstehen, zurückbezahlt werden?

„Sie müssen nicht zurückbezahlt werden, sie dürfen nicht zurückbezahlt werden, und sie können gar nicht zurückbezahlt werden.“

„Wenn die drei Sektoren – die privaten Haushalte, die Unternehmen und der Staat – gleichzeitig versuchen, sich zu entschulden, also zu sparen, würde das zwangsläufig zu einem negativen Wirtschaftswachstum führen, zwangsläufig Arbeitslosigkeit erzeugen. Also kann der Staat das auf keinen Fall versuchen, weil er damit die nächste Krise provoziert oder die bereits vorhandene Krise verlängert", erklärt Friederike Spiecker.

Die Große Depression 2.0. oder aufgeklärter Keynesianismus?

Die Covid-19-Pandemie hat die Weltwirtschaft in die schlimmste Rezession seit dem Crash von 1929 gestürzt. Es gelte, die globale Ökonomie vor einer katastrophalen Depression wie in den 30er-Jahren zu schützen, meint der Berliner Makro-Ökonom Dirk Ehnts.

Es sind die klassischen keynesianischen Modelle, die jetzt wieder Konjunktur haben. Allerdings brauche es heute einen ökologisch aufgeklärten Keynesianismus, findet Dirk Ehnts, der sich in den letzten Jahren intensiv den Kopf darüber zerbrochen hat, wie ein „Green New Deal“ aussehen könnte.

„In dieser globalen Depression muss auch eine Arbeitszeitverkürzung auf der Tagesordnung stehen. Wir können nicht mehr zurückkehren zum 'Business as usual', ohne den Planeten zu gefährden.“ Es gelte also, die Gesellschaft neu zu denken. Und dafür brauchen wir neue Theorien, neue Ideen, ansonsten lasse sich eine große Depression nicht mehr aufhalten, so Ehnts.

Corona und die Wall Street - Gewinner und Verlierer

Als die Krise spürbar wurde, brachen die Kapitalmärkte ein, erklärt Robert Wosnitzer, Professor an der Stern School of Business an der New York University. Die Liquidität trocknete aus und die Preise gingen scharf nach unten, insbesondere für Werte wie Staatsanleihen.

Dieser Schockzustand war aber nicht von langer Dauer. Denn, wie Wosnitzer erläutert, schien alles bald wieder eitel Wonne zu sein. Denn mit der gigantischen Geldspritze der US-Notenbank änderte sich plötzlich der Ton. „Was auffällt, ist, dass die Notenbank tatsächlich gewillt ist, alles zu kaufen.“ Es gebe dafür kein historisches Beispiel, auch nicht 2008, so Wosnitzer. Ob Immobilen-Wertpapiere, Derivate oder Aktien, was auch immer es sein mag, es gibt einen Preis und er wird bezahlt.

Trotz der starken Reaktion der Notenbanken, ist die Verunsicherung groß. Dies lässt sich an einem relativ neuen Börsenmarkt illustrieren, dem so genannten VIX - der Begriff steht für Volatility Index. Er gilt als Angst-Barometer, der mit der Krise an Bedeutung gewinnt, erklärt der Finanzmarktexperte Elie Ayache. Das liege daran, dass es nicht mehr nur um den Versuch geht, die Risiken und Chancen bestimmter Staaten, Unternehmen und Sektoren direkt zu bewerten. Man handle nun verstärkt die Volatilität der Volatilität selbst.

U-Bahnstation in Chile

AP/ESTEBAN FELIX

Ohne Netz - Die Grenzen des neoliberalen Wirtschaftssystems

Ein Hotspot der globalen Pandemie ist zurzeit Lateinamerika, vor allem Brasilien ist schwer getroffen, aber auch Chile, das reichste Land mit dem modernsten Gesundheitssystem in Südamerika. Chile verfolgt seit den 1970er Jahren eine neoliberale Wirtschafspolitik und ist ein gutes Beispiel für eine globalisierte Wirtschaft: Export und Import sind sehr hoch, 50 Prozent des Exports ist Kupfer, sein Preis ist bis jetzt relativ stabil geblieben.

Santiago de Chile ist auch das wichtigste Finanzzentrum Lateinamerikas. Die wirtschaftlichen Aussichten von Ländern wie Chile, die sehr abhängig sind von der globalisierten Wirtschaft, beurteilt Kurt Bayer, ehemaliger Board Director der Weltbank in Washington folgendermaßen:

"Jetzt stagniert die chinesische Wirtschaft, das heißt, Rohstoffexporteure, wie Chile, Brasilien oder Argentinien werden massive Absatzprobleme haben. Denn auf der ganzen Welt ist niemand sichtbar, der diesen Nachfrageausfall wettmachen kann. Das heißt, das alte Wirtschaftsmodell Lateinamerikas "Wir liefern Rohstoffe in die ganze Welt" wird so nicht mehr funktionieren. Die lateinamerikanischen Staaten werden neue Wirtschaftsmodelle finden müssen und sie werden stärker auf regionale Kreisläufe angewiesen sein", sagt Kurt Bayer.

Bis Ende Mai verzeichnete Chile über 100.000 Coronavirus Fälle.
Und es sind die Arbeiterviertel von Santiago, wo sich das Virus am schnellsten ausbreitet. Die Arbeitslosigkeit hat in der Hauptstadt ebenfalls Rekordzahlen erreicht. Ein neues Arbeitsschutzgesetz schreibt vor, dass die Arbeitgeber für die Dauer der Krise ihre Arbeitnehmer nicht bezahlen müssen.

Mit dieser Maßnahme sollen die Jobs zwar gerettet werden, doch die Lebenshaltungskosten müssen vom selbst angesparten Arbeitslosengeld finanziert werden. In Chile verfügt jeder über sein eigenes Arbeitslosenkonto, das so wie das Pensionskonto von privaten Fonds gemanagt wird.

Der chilenische Weg: Streitthema unter Ökonomen

„Was wir in Chile sehen, ist nicht nur ein Kollaps des Gesundheitssystems, sondern auch ein Kollaps des Versorgungssystems und zwar nicht, weil es einen Mangel an Lebensmitteln oder Probleme mit den Lieferketten gibt, nein, die Menschen haben kein Geld und es fehlt die Grundversorgung“, erläutert die Ökonomin Maria Jose Becerra.

Trotz der dramatischen humanitären Situation ist der der Wirtschaftsexperte Francisco Javier Labbe überzeugt, dass sich Chile schneller als andere lateinamerikanische Länder von der Corona-Krise erholen wird. Das Land gelte als kreditwürdig, als seriöser Wirtschaftspartner und hat Zugang zu den globalen Finanzmärkten. Chile hat keine hohen Staatsschulden und verfügt über ausreichende Ressourcen, so der ehemalige Dekan der Universidad San Sebastian in Santiago.

Afrika: „If the virus doesn`t kill me, hunger will“

Speziell in Afrika zeigt sich, wie unterschiedlich sich die Folgen der Corona-Pandemie auswirken. Auf dem Afrikanischen Kontinent, auf dem 1,3 Milliarden Menschen in 55 Ländern leben, sind die Infektionszahlen und Todesfälle bislang gering. Die wirtschaftlichen Folgen sind allerdings katastrophal.

Die abnehmende Kaufkraft und Nahrungsmittelknappheit führen bereits zu Mangelernährung. Laut einer US-amerikanischen Studie wird der Bevölkerungsanteil, der mit 1,9 US-Dollar am Tag überleben muss, in den nächsten Monaten um 23 Prozent ansteigen. Bis zu 50 Millionen Menschen in Afrika werden aufgrund der Corona-Krise ihre Ernährungssicherheit verlieren.

Gestaltung: Christina Höfferer, Günter Kaindlstorfer, Gerald Nestler, Wolfgang Ritschl, Ina Zwerger, Pablo Volenski, Johannes Kaup