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Radiokolleg
Globaler Ausnahmezustand - Wie ein Virus die Welt verändert
Was bedeutet Corona nun wirklich für die EU?
18. Juli 2020, 02:00
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Radiokolleg | 17 06 2020 | 9:05
Die Covid-19-Krise werde ein "Ende der Globalisierung" bringen, ein Comeback des Nationalismus. "Zu Beginn der Corona-Krise hat die Europäische Union für die meisten Menschen keine Rolle gespielt. Es waren die nationalen Regierungen, die gezählt haben", so der bulgarische Philosoph Ivan Krastev, einer der prominentesten Polit-Analytiker der Gegenwart.
In der Zwischenzeit habe sich das aber wieder geändert. Die EU sei wieder im Spiel, als Agent der ökonomischen Stabilisierung, aber auch als übernationale europäische Schutz- und Trutzgemeinschaft in einer immer nationalistischer werdenden Welt.
"Die Corona-Krise wird wichtiger für die Zukunft der EU sein als alle bisherigen Krisen." Ivan Krastev
HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG - (CC BY-SA 2.0)
Ivan Krastev, Philosoph und Polit-Analytiker hat ein neues Buch herausgebracht: "Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie die Welt verändert", erschienen bei Ullstein.
"Wir erleben gerade einen gewissen Druck in Richtung De-Globalisierung, in Richtung Protektionismus, in Richtung neue Regionalisierung", sagt Krastev. "Was wir außerdem erleben - und das wird in Zukunft noch stärker werden -, ist eine massive Konfrontation zwischen China und den Vereinigten Staaten. Und diese Konfrontation wird den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern in Europa ganz, ganz deutlich machen: Wir brauchen die EU. Und wenn es die EU nicht gäbe, müssten wir sie erfinden."
Datensouveränität in Corona-Zeiten
War Datentracking vor der Krise weitestgehend ein Thema für Spezialisten sowie Bürger/innen, die sich für die sozialen und politischen Auswirkungen von Überwachungstechnologien interessierten, sind diese invasiven Methoden mit Covid-19 in der Gesellschaft angekommen. Plötzlich geht es weniger darum, ob Geheimdienste und Konzerne zu diesen Mitteln greifen, um Staatsbürger und Konsumenten zu kontrollieren. Stattdessen sind wir aufgefordert, diese Applikationen freiwillig auf unsere Mobiltelefone zu laden, um uns vor Ansteckung zu schützen.
Ziko van Dijk - (CC BY-SA 3.0)
"War brauchen viele Daten, um die Ausbreitung der Epidemie eindämmen zu können" Felix Stalder
"Wir wissen nicht, wie sich das Virus ausbreitet. Wir benötigen also technologische Verfahren - von manchen kritisch als kybernetische Implantate bezeichnet -, die uns warnen, wenn es zu einer möglichen Übertragung gekommen und eine Isolierung notwendig ist", sagt Denis Roio alias Jaromil - Open-Source-Entwickler, Dyne.org, Amsterdam.
Apple und Google haben dafür extra ihre Schnittstellen umgestellt. "Diese multinationalen Konzerne unterstützen die Einführung eines Protokolls, des DP-3T, dass sie hoffentlich angemessen einsetzen werden", so Denis Roio. Der Open-Source-Entwickler warnt, dass damit aber nicht gewährleistet sei, dass das Protokoll in Zukunft auf den Schutz der Privatsphäre ausgerichtet sein wird. "Sobald die Apps installiert und verwendet werden, erhalten diese beiden Unternehmen enorme Kenntnisse darüber, wer sie wann anwendet." Datensouveränität bedeute aber, dass man den Zweck der Übung beschränkt, nämlich nachvollziehen zu können, wann jemand mit einer infizierten Person Kontakt hatte.
Mit Big Data gegen Corona?
Wir brauchen viele Daten, um die Ausbreitung der Epidemie eindämmen zu können, so Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste. Die Frage sei, woher diese Daten stammen und wer darüber entscheidet, was damit passiert. In den letzten Monaten sei es gelungen, einen Ansatz der europäischen Zivilgesellschaft, der Gesundheitsexperten und der großen Universitäten zu formulieren, der so überzeugend war und so viel Druck aufbauen konnte, dass sogar die Giganten von Silicon Valley, also Google und Apple ihre Betriebssysteme anpassen mussten, um dieses Modell, um diese neuen Apps brauchbar zu machen, so Felix Stalder, Autor des Buch "Kultur der Digitalität", erschienen bei Suhrkamp.
"Das ist für mich ein ganz klares Zeichen, dass es Alternativen gibt, dass wenn nicht kommerzielle Akteure Technologie entwickeln, dass sie das erstens können und zweitens, dass da dann etwas ganz anderes dabei herauskommt, als wenn das kommerzielle oder staatliche Akteure machen. Es ist keine Überwachung, es ist große Transparenz, die Nutzer/innen sind in Kontrolle. Es geht nicht darum die Akteure in Konkurrenz zu setzen, sondern darum, dass sie sich gegenseitig helfen, um gemeinsam das Ziel der öffentlichen Gesundheit zu erreichen", sagt Felix Stalder im Gespräch mit Wolfgang Ritschl.
Gestaltung: Günter Kaindlstorfer, Gerald Nestler, Christina Höfferer, Irmgard Wutscher, Ina Zwerger, Wolfgang Ritschl