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APA/HELMUT FOHRINGER

Radiokolleg

Globaler Ausnahmezustand

Ob in Mumbai, New York, Moskau oder Rio de Janeiro - global und beinahe gleichzeitig wurden überall auf der Welt drastische Maßnahmen gesetzt, die vor kurzem noch undenkbar waren. Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist die Welt so global und schnell zum Stillstand gekommen. Die Globale Gleichzeitigkeit des Ausnahmezustands verschärft soziale Ungleichheiten und Unterschiede.

Die erzwungene Immobilität, die "Wohnhaft", das Runterfahren der Wirtschaft auf ein Minimum, die Schließung der Schulen und Geschäfte, die Absage aller Veranstaltungen - hat in Wohlfahrtsstaaten andere Konsequenzen als in Staaten ohne sozialem Auffangnetz.

Die Vollbremsung der Weltwirtschaft führt zur größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression von 1929, so prognostiziert der IWF bereits im April. Die Entwicklungs- und Schwellenländer sind jedenfalls besonders hart getroffen. Wo Menschen, von der Hand in den Mund leben, führt ein Lockdown zu Hungersnot.

Indien - Der “größte Lockdown der Welt“

Am 24. März verkündete der indische Präsident Narendra Modi, dass vier Stunden später eine Ausgangssperre für die 1,3 Milliarden Inderinnen und Inder beginnen sollte. Von einem Moment auf den anderen war der öffentliche Verkehr eingestellt, alles Leben auf der Straße unterbunden – und Millionen von Wanderarbeitern ohne Einkommen.

Der Lockdown in Indien hat vor allem die Ärmsten der Bevölkerung in Bedrängnis gebracht. Bis zu 85 Prozent der indischen Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor als Tagelöhner, als Haushaltshilfen, Fahrer, Straßenverkäufer oder Handwerker.

Die Corona-Krise habe Schwachstellen im indischen System aufgezeigt, berichtet die Journalistin Sunaina Kumar aus Neu Delhi. „Viele hätten eigentlich Zugang zu einer Sozialversicherung an ihrem Wohnort, aber wenn sie sich dort nicht aufhalten, wenn sie zum Arbeiten in andere Städte ziehen, dann haben sie keine Sozialversicherung, keine Krankenversicherung, keine Nahrungsmittelversorgung.

Welchen Einfluss hat der Einbruch der Weltwirtschaft auf die Globalisierung?

Die Globalisierung beruht auf Handelsbeziehungen, die im Idealfall sehr frei gestaltbar sind. Und zwar in erster Linie von den industrialisierten Ländern. Der Ökonom Heiner Flassbeck war viele Jahre bei der UNO-Organisation UNCTAD als Leiter der Abteilung für Globalisierung und Entwicklung tätig. Er kritisiert die Leichtfertigkeit mit der der darüber geredet wird, dass die Globalisierung zurückgedreht werden soll und mehr regionale Wirtschaft auch den Ländern des globalen Südens neue Chancen bietet. Das hätte dramatische Folgen für die Entwicklungsländer, warnt Flassbeck, weil sie eben nicht die Möglichkeit haben, über ihre Staaten, die Effekte abzufedern.

„Wir werden aus dieser Krise herausgehen und die ganze Welt wird deutlich ärmer sein. Wenn wir hier am Ende 20 Prozent weniger haben, ist das verkraftbar. Aber in Ländern, wo die Menschen ohnehin am Subsistenzminimum leben, ist das nicht verkraftbar.“

Im Chaos ohne Sozialstaat

Die strukturellen und sozialpolitischen Konsequenzen dieses Covid-19-bedingten globalen Ausnahmezustandes werden davon abhängen, wie lange der Lockdown in den verschiedenen Teilen der Welt dauert, erklärt der Philosoph Julian Nida–Rümelin von der Universität München.

Was sich abzeichnet ist, dass sozialstaatliche Maßnahmen nicht nur die Bürger/innen unterstützen, sondern ein erfolgreiches Instrument in der Krisenbewältigung sind. Nida–Rümelin spricht von einer Renaissance des traditionellen Sozialstaates: „In Ländern, wie in den USA, wo es keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gibt, gehen die Leute mit Erkältungen, auch mit grippalen Infekten arbeiten, weil es für sie tagelang völligen Verdienstausfall bedeutet. Das ist ein Infektionsbeschleuniger sondergleichen.“

Das gleiche gelte für die wachsende Arbeitslosigkeit in der Krise: „Dort, wo es kein Arbeitslosengeld gibt, wird die Krise massiv beschleunigt.“

Brasilien - Epizentrum der Pandemie

Ein Hotspot der globalen Pandemie ist Brasilien, wo am 10. Juni innerhalb eines Tages mehr als 32.000 Neuinfektionen, fast doppelt so viele wie in den USA, verzeichnet wurden. Mittlerweile hat Brasilien die weltweit zweithöchste Ansteckungsrate nach den Vereinigten Staaten. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, auf den Friedhöfen wurden Massengräber für die Todesopfer aus Armenviertel angelegt.

Erschwert wird die Situation durch ein politisches Chaos, das der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro verursacht. Immer wieder bezeichnet er das Covid-19-Virus als "kleine Grippe". Er selbst hält sich an keine Schutzmaßnahmen und kritisiert lautstark Gouverneure und Bürgermeister, die Ausgangssperren verhängt haben. Um das wahre Ausmaß der Pandemie zu verschleiern, veröffentlicht die brasilianische Regierung keine Daten mehr über Infektionen und Todesfälle. Zwei Gesundheitsminister sind seit Beginn der Krise bereits - mehr oder weniger freiwillig - aus dem Amt geschieden. Jetzt ist ein Militärgeneral für das Krisenmanagement zuständig.

Karen Melo (Rio de Janeiro): Polizeigewalt während Quarantäne

„Die Zahlen, die man in Medien liest, sind stark untertrieben. Hier in der Favela sind sehr viele Menschen mit dem Virus infiziert, aber die werden gar nicht mitgezählt", berichtet Karen Melo, Aktivistin und Journalistin beim Online-Magazin der NGO "Voz das Comunidades" ("Stimme der Favelas"). Darin berichten Bewohner und Bewohnerinnen der Favelas, was bei ihnen vor sich geht. Karen Melo wohnt selbst im Complexo do Alemão, einem riesigen Armenviertel, das sich auf den steilen Hügeln im Norden von Rio de Janeiro erstreckt. "Voz das Comunidades" verteilt täglich bis zu 1.000 Lebensmittelhilfen an notleidende Favela-Bewohnerinnen.

Seit Monaten sind die Schulen in Rio de Janeiro geschlossen. Die Kinder in den Favelas verlieren nicht nur das Schulessen, die oft einzige warme Mahlzeit am Tag. Sie verlieren auch Chancen. Der Online-Unterricht funktioniere vielleicht für die Mittelschichten, erklärt Journalistin Melo, doch hier am Hügel seien Computer, Handys und leistbares Internet Mangelware. Platz und Ruhe zum Lernen ebenfalls. Und demnächst stehen die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten bevor. Ein ganzer Jahrgang an Maturanten aus benachteiligten sozialen Schichten habe diesmal besonders schlechte Karten. Die Pandemie verstärke alle Ungleichheiten, die vorher schon da waren, beklagt Karen Melo.

Text: Ina Zwerger

Sendungsgestaltung:
Irmgard Wutscher, Thomas Miessgang, Günter Kaindlstorfer, Wolfgang Ritschl, Margarethe Engelhardt-Krajanek, Ulla Ebner, Ina Zwerger