AP/FERNANDO VERGARA
Radiokolleg
Globaler Ausnahmezustand - Visionen, Dystopien und Diskurse
Das Radiokolleg Spezial mit 26 Beiträgen von elf Autorinnen und Autoren beleuchtet im letzten Teil, welche Visionen, Dystopien und Diskurse die weltweite Pandemie in kürzester Zeit ausgelöst hat. Geht der Globalisierung die Luft aus oder müssen wir gar mit einer Beschleunigung der Globalisierung rechnen?
19. Juli 2020, 02:00
Sendung hören
Radiokolleg | 18 06 2020 | 09:05 Uhr
Der amerikanische Kulturtheoretiker Brian Holmes spricht von einer Gesundheitskrise des Planeten und der indische Globalisierungsforscher Arjun Appadurai sieht die Covid-19 Pandemie als Zeichen, dass die Moderne endgültig zu Ende geht und ein neues, planetares Zeitalter anbricht.
„Wir beginnen zu begreifen, wie klein die menschliche Existenz im Verhältnis zum gesamten Leben dieses Planeten und der kosmischen Dimension ist.“
Das Paradoxe dabei sei, so Arjun Appadurai, dass uns das Anthropozän lehrt, wie sehr die Menschheit zur Zerstörung des Planeten beigetragen hat. Andererseits stellen wir fest, dass wir nur eine sehr kleine Kraft unter vielen anderen weit verzweigten Wirkmächten sind, die die Natur insgesamt betreffen, was über unser heutiges Verständnis von Natur weit hinausgehen dürfte.
Der Begriff „Anthropozän“ bringt begrifflich auf den Punkt, dass der Mensch das gesamte Erdsystem so gravierend verändert hat, dass wir von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche ausgehen müssen. Klimawandel, Artenschwund, die Störung wichtiger Stoffkreisläufe, die Versauerung der Meere, Versteppung und Entwaldung, allgegenwärtige Toxine und auch die auf die Lebensraumausdehnung des Menschen zurückgehenden Zoonosen wie Covid-19 sind nur einige Dimensionen dieses tiefgreifenden Wandels.
Was es heißt, den Menschen als geologische Kraft zu verstehen, damit beschäftigt sich auch Eva Horn, die gemeinsam mit Hannes Bergthaller diese Woche im Junius Verlag das Buch „Anthropzän - Eine Einführung“ veröffentlicht hat.
Eva Horn, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin im Gespräch mit Wolfgang Ritschl
"Also wenn man die Corona-Krise vergleicht mit den Folgen des Klimawandels oder anderer ökologischer Brennpunkte, dann muss man sagen, ist die Corona-Krise gemessen daran, eine Lappalie", sagt Eva Horn, Kultur- und Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wien.
Corona als Diskurskonkurrenz
Die Corona-Pandemie hat einen „Epochenrausch“ erzeugt, wie es der Germanist und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl nennt, in dem geradezu ein Wettlauf der Theoretiker und Philosophen um Standortvorteile in der Diskurskonkurrenz stattfand. Doch die Begriffe, mit denen die Meisterdenker auf den Meinungsmarkt drängten, waren häufig ihre alten: Sie sagten einfach, was sie immer schon gesagt haben; nahmen ihre bekannten Erklärungsmuster, stülpten sie der gegenwärtigen Situation über - und nichts Neues ging daraus hervor.
Damit könne man Covid-19 aber nicht gerecht werden, meint Vogl. Um das Spezifische dieser Gesundheitskrise erfassen zu können, die „auf unbequeme Weise im Fluss“ sei, dürfe man nicht von Theorien, Konzepten und Anschauungen ausgehen: „Man muss den umgekehrten Weg gehen. Von einer noch völlig unübersichtlichen Situation - man kann auch den Begriff der Betroffenheit einsetzen - zur Theoriebildung, zur Begriffsbildung etc.“
Denn auch der Theoretiker sei derzeit in einer Situation, in der er den Schiffbruch nicht vom sicheren Ufer aus beobachten könne: „Wir sind selbst Gegenstand, Teil, auch Betroffene dieses Geschehens. Und das erzeugt eine theoretisch durchaus schwierige Situation.“
Joseph Vogl über das Gedränge der Meisterdenker am Corona Meinungsmarkt
Der Germanist und Kulturwissenschaftler bezweifelt, dass die hektische Diskursivität zu großen Erkenntnisfortschritten führt. Denn neu an Corona, sagt der Kulturwissenschaftler, ist die Tatsache, dass der Theoretiker seine Außenbeobachterposition aufgeben muss
Gestaltung: Ina Zwerger, Thomas Mießgang, Richard Brem, Wolfgang Ritschl, Gerald Nestler