
ORF/URSULA HUMMEL-BERGER
Kontext
Sachbücher und Themen
Von den Krisenherden dieser Welt über Entdeckungen der Neurowissenschaften bis zu den schönen Künsten. "Kontext" bietet Orientierungsservice im Sachbuch-Dschungel. Reportagen, Diskussionen, Rezensionen, Studiogespräche, Hintergrundberichte zu spannenden Büchern über Zeitgeschichte, Wirtschaft und Wissenschaft. Und ab und zu darf auch gelacht werden.
13. Jänner 2023, 16:39

Sachbücher im März
Die monatlich erscheinende Sachbuch-Bestenliste der Medienpartner "Die Literarische Welt", Radiosender WDR 5, "Neue Zürcher Zeitung“ sowie Ö1.
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Susanne Kaiser: "Backlash"
Bei den Frauenmorden liegt Österreich im oberen europäischen Drittel, 28 Femizide waren es im Vorjahr. Der Frage "Was ist nur los mit Österreich?" wird dann in Diskussionsrunden nachgegangen. Was ist nur los mit manchen Männern? Wäre wohl eine bessere Fragestellung. Denn es ist ein internationaler Trend, dass Frauen, je stärker sie werden, auch umso mehr bedroht werden. Man denke nur an den US Supreme Court, der das Recht auf Abtreibung verbietet oder an die Proteste in Polen gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Dieser Backlash ist eine Reaktion auf die zunehmende Gleichberechtigung, ist die Journalistin Susanne Kaiser überzeugt. Sie recherchiert seit über zehn Jahren zu diesem Phänomen, sie hat mit Betroffenen gesprochen und analysiert das Problem gesellschaftlich, politisch und privat.
Susanne Kaiser, "Backlash - Die neue Gewalt gegen Frauen", Tropen Verlag
Wolfgang Seibel
Franziska Grillmeier: "Die Insel"
Moria war die Schande Europas. Bis zu zwanzigtausend Menschen waren in dem viel zu kleinen Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos unter katastrophalen Bedingungen zusammengedrängt. Die Behörden waren von der großen Zahl an Asylanträgen überfordert. Die leichten Zelte boten unzureichend Schutz gegen Wind und Regen. Es fehlte an Hygieneartikeln, Nahrungsmitteln und an psychologischer Hilfe für die vielen Traumatisierten. So erschütternd, so bekannt waren diese Gegebenheiten auch, als die freie Journalistin Franziska Grillmeier im Sommer 2018 eine Wohnung auf Lesbos mietete, um über Moria zu berichten.
Franziska Grillmeier, "Die Insel - Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas", C.H. Beck Verlag
Georg Renöckl
Silke Ohlmeier: "Langeweile ist politisch"
Langeweile ermüdet, laugt aus, macht antriebslos. Kaum aber jemand gibt zu, von Langeweile geplagt zu sein. Langeweile ist eines der größten Tabus unserer Zeit, findet die Soziologin Silke Ohlmeier. Sie stellt die Frage, ob das Leiden an der Langweile nicht daher kommt, dass wir sie als individuelles Problem verstehen, statt die größeren gesellschaftlichen Mechanismen dahinter zu begreifen. Langeweile hat für die Forscherin viel mit den Ungleichheitsdimensionen Klasse, Gender und Race zu tun. Kein Wunder, dass von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossene Jugendliche in den Pariser Vorstädten angeben, Langeweile sei ihr größtes Problem.
Silke Ohlmeier; 2Langeweile ist politisch - Was ein verkanntes Gefühl über unsere Gesellschaft verrät", Leykam Verlag
Studiogespräch: Wolfgang Ritschl
Wolfgang Struck: "Flaschenpost"
Beschriebene Zettel, die in Flaschen auf dem Meer treiben: Alles Mögliche kann da drauf stehen, ein Ruf nach Rettung von einer einsamen Insel, ein Liebesschwur oder ein Kochrezept. Kindern etwa bringt der Hase Felix in einem Buch charmant die Küchen der Welt nahe durch Rezepte in Flaschenposten. In der Realität kommen Botschaften nicht so einfach an den gewünschten Empfänger, denn Meeresströmungen, der Wind und andere Unbill treiben die Nachrichten vielleicht in eine gänzlich falsche Richtung. Dass das auch nützlich sein kann, zeigt ein legendäres Experiment, das den Kern des Buches „Flaschenpost“ von Wolfgang Struck ausmacht.
Wolfgang Struck, "Flaschenpost - Ferne Botschaften, frühe Vermessungen und ein legendäres Experiment", Mare Verlag

APA/FLORIAN WIESER
Julia Ebner: "Massenradikalisierung"
Die Politologin Julia Ebner ist eine ungewöhnliche Forscherin: Um die ebenso gefährliche wie bizarre Welt gewaltbereiter Internet-Extremisten zu erkunden, hat sich die gebürtige Wienerin unter verschiedenen Identitäten Zugang zu extremistischen Gruppen verschafft - von den rechtsextremen Identitären bis hin zu einer streng geheimen Hackertruppe des "Islamischen Staats". Die Ergebnisse ihrer Forschungen hat Julia Ebner - die seit einigen Jahren in London lebt - im Jahr 2019 in ihrem Buch "Radikalisierungsmaschinen" präsentiert. Jetzt hat die 31-Jährige im Suhrkamp-Verlag einen Folgeband über Massenradikalisierung nachgelegt.
Julia Ebner, "Massenradikalisierung - Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt", aus dem Englischen von Kirsten Riesselmann, Suhrkamp
Natascha Strobl: "Solidarität"
Energiekrise, Inflation, Pandemie, der Krieg in der Ukraine und dazu und über allem noch die Klimakrise. Die Krise ist zur Normalität geworden. Wie aber begegnen wir diesen sich überlappenden Krisen? Nicht optimal, findet die Politologin Natascha Strobl. Sie hat einen Essay über den Begriff der Solidarität verfasst, der sich als Mittel gegen Fatalismus, Zynismus und Defätismus versteht. Eine bessere Welt ist möglich, dazu will die Autorin Mut machen.
Natascha Strobl, "Solidarität", Kremayr & Scheriau
Studiogespräch: Wolfgang Ritschl
Eva Demski: "Mein anarchistisches Album"
Das rätselhafte spitze A im Kreis: An Hauswände gesprayt provoziert es Kinderfragen, was das bedeuten soll. Den Erwachsenen fällt dann meist Regellosigkeit ein und dass die schwer zu leben sei. Im Hinterkopf weiß man, dass Anarchismus weit mehr bedeutet, aber wie soll man das vermitteln? Vielleicht anhand von Geschichten. Was genau Anarchismus ist, welche Ideen dahinterstecken, wer sie hatte und wer sie wann wie umsetzte –die deutsche Schriftstellerin Eva Demski hat dies recherchiert und ein persönliches Album zusammengestellt, das die spannende Geschichte des Anarchismus durchstreift.
Eva Demski, "Mein anarchistisches Album - Eine persönliche Erkundung der Geschichte des Anarchismus", Insel Verlag

AFP
Jamie Susskind: "Digital Republic"
Algorithmen definieren, wer einen Kredit bekommt, welche Waren uns angeboten werden und wessen Bewerbung Erfolg hat. Die Menschen, die die dafür nötigen Codes schreiben, stellen zunehmend die Regeln für alle auf. Softwareentwickler sind aufgestiegen zu Gesellschaftsentwicklern. Was keine gute Sache ist, denn, so der Politologe Jamie Susskind, die gigantische Macht der Tech-Unternehmen ist eine kaum zu unterschätzende Gefahr für unsere Demokratie. Jamie Susskind plädiert er für neue Gesetze.
Jamie Susskind, "Digital Republic - Warum unsere neue Welt eine neue Ordnung braucht", übersetzt von Heike Schlatterer und Sigrid Schmid, Hoffmann und Campe
Madeleine Amberger
Maria Pettersson: Frauen, die Regeln brachen
Im Englischen gibt es den treffenden Kunstbegriff der "herstory" - er soll darauf aufmerksam machen, dass in der offiziellen Geschichtsschreibung, der "history", Frauen nach wie vor zu wenig Platz eingeräumt wird. Nicht umsonst erscheinen in regelmäßigen Abständen Bücher über Frauen, die vergessene Pionierleistungen hervorheben. Genau das tut auch die Journalistin Maria Pettersson: Die geschichtsbegeisterte Finnin hat außergewöhnliche Frauen aus Wissenschaft und Sport, Kunst und Politik dem Vergessen entrissen.
Maria Pettersson, "Anführerinnen, Agentinnen, Aktivistinnen - Außergewöhnliche Frauen, die Regeln brachen", übersetzt von Maximilian Murmann, Knaur
Hausbichler/Maan: "Geradegerückt"
Stellen wir uns vor, was gewesen wäre, wenn es sich bei Paris Hilton um einen männlichen jungen Hotelerben gehandelt hätte: Wäre seine Feierei als "Herumludern" betitelt worden? Wäre ihm ständig zwischen die Beine fotografiert worden? Eine junge Frau, die feiert, verdient jede noch so erdenkliche Respektlosigkeit, diese Lehre könnte man den Medien entnehmen. Aus Medienberichten über Camilla Parker-Bowles lernen wir: So sollte eine Frau nicht aussehen, so sollte sie sich nicht verhalten, so sollte sie nicht sein, wenn sie nicht beleidigt werden will. Immer wieder werden Frauen vorverurteilt, skandalisiert und verleumdet.
Beate Hausbichler und Noura Maan (Hrsg.), "Geradegerückt - Vorverurteilt, skandalisiert, verleumdet: Wie die Biografien prominenter Frauen verzerrt werden", Kremayr und Scheriau
Studiogespräch: Wolfgang Ritschl
Bas Kast: "Kompass für die Seele"
Teuerung, Krisen, Stress: Zeiten wie diese sind enorme Herausforderungen für unser psychisches Wohlbefinden. Doch was tun gegen alltägliche Überforderung, chronische Erschöpfung oder depressive Verstimmung? Mit seinem "Ernährungskompass", für den Bas Kast akribisch sämtliche relevante Studien der letzten Jahrzehnte durchforstet hat, gelang ihm ein Millionen-Bestseller. Für sein neues Buch hat Bas Kast auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse und zahlreicher Selbstversuche zehn alltagstaugliche Strategien für "mehr Energie, Ausgeglichenheit und Freude im Leben" zusammengestellt.
Bas Kast, "Kompass für die Seele - Das Fazit neuester Studien zu Resilienz und innerer Stärke", C. Bertelsmann
Ivo Kaufmann

EDITION NAUTILUS
Jacqueline Jones: "Göttin der Anarchie"
Lucy Parsons war eine der bekanntesten Anarchist:innen Amerikas und Wortführerin der US-Arbeiterbewegung. Trotzdem ist sie, wenn überhaupt, höchstens als Witwe von Albert Parsons bekannt, einem von fünf Anarchisten, die nach dem Haymarket-Aufstand von 1886 hingerichtet wurden. Dabei hat sie ihren Mann um Jahrzehnte überlebt und war viel mehr als bloß "die Witwe": Zu ihrem Schwarzsein hatte sie jedoch ein ambivalentes Verhältnis, im Vordergrund stand für sie stets die Klassenfrage.
Jacqueline Jones, "Göttin der Anarchie - Leben und Zeit von Lucy Parsons", übersetzt von Felix Kurz, Edition Nautilus
Madelaine Amberger
B. Reinhold, "Oskar Kokoschka und Österreich"
Er mischte die Wiener Kunstszene vor 1914 als "Junger Wilder" auf. Woraufhin Thronfolger Franz-Ferdinand polterte, man müsse dem "Kerl alle Knochen im Leib brechen". Die Rede ist von Oskar Kokoschka, einem der prominentesten österreichischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Die Nazis verfolgten den gebürtigen Niederösterreicher als "entarteten Künstler", Kokoschka fand dann im britischen Exil und später am Genfersee eine neue Heimat. Er starb 1980 im Alter von 94 Jahren. Die Kunsthistorikerin Bernadette Reinhold widmet dem Künstler nun eine Biografie, in der sie sich vor allem mit den politischen Aspekten in Kokoschkas Werk und Leben auseinandersetzt.
Bernadette Reinhold, "Oskar Kokoschka und Österreich - Facetten einer politischen Biografie", Böhlau
Günter Kaindlsdorfer
Elodie Arpa: "Freiheit"
Was meinen wir, wenn wir "Freiheit" sagen? Obwohl wir den Freiheitsbegriff alle gerne hören und verwenden, halten wir selten inne, um ihn uns genauer anzusehen. Genau das hat nun Elodie Arpa gemacht: sie hat sich angeschaut, was wir meinen, wenn wir Freiheit sagen. Oder genauer gesagt: was bestimmte Gruppen meinen, wenn sie Freiheit sagen. Sehr oft wird Freiheit nämlich missbräuchlich verwendet, und zwar in einem freiheitsgefährdenden Sinn. Die Forderung nach Freiheit kann auch ein Deckmantel für Egoismus, Ignoranz und Diskriminierung sein.
Elodie Arpa, "Freiheit", Kremayr & Scheriau
Studiogespräch: Wolfgang Ritschl
Nigge/Schulze-Hagen: "Vogelwelten"
In der freien Natur sind immer weniger Vögel anzutreffen. Der Sammelwut früherer Zeiten ist es zu verdanken, dass in Kellern und Tiefspeichern die einstige Artenvielfalt dokumentiert ist. Weil der weltweite Corona-Lockdown sämtliche Reisepläne gestoppt hatte, besuchten der Biologe Karl Schulze-Hagen und der preisgekrönte Tierfotograf Klaus Nigge erst den langjährigen Chefpräparator des Naturkundemuseums in Berlin, Jürgen Fiebig. In Berlin und in vier weiteren Naturkundemuseen in Bonn, Frankfurt, Köthen und Wien durften sie hinter die Kulissen der berühmten, öffentlich meist nicht zugänglichen wissenschaftlichen Vogelsammlungen schauen. Eine halbe Million vogelkundlicher Objekte lagern in Schubladen, Kisten oder Glaskästen, ein Bruchteil davon ist nun im Buch "Vogelwelten" zu sehen.
Klaus Nigge und Karl Schulze-Hagen, "Vogelwelten - Expeditionen ins Museum", Knesebeck
Maicke Mackerodt
Service
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