Ein Bezoar ist eine Filzkugel aus Tierhaaren.

TIROLER LANDESMUSEUM

Das Objekt der Begierde

Tiroler Volkskunstmuseum

Karl Berger leitet seit fünf Jahren das Tiroler Volkskunstmuseum und die Hofkirche in Innsbruck. Er hat Volkskunde, europäische Ethnologie und Politikwissenschaften studiert und ist seit zehn Jahren im Museum tätig.

Das Volkskunstmuseum ist - neben dem Ferdinandeum - eines von fünf Häusern der Tiroler Landesmuseen. Es bewahrt volkskundliche, ethnologische, ethnografische, kunstgeschichtliche und kunstgewerbliche Sammlungen bewahrt und präsentiert sie in Ausstellungen mit historischem und aktuellem Bezug.

Das Salz in der Suppe der Museumsarbeit

Fragt man Karl Berger nach dem spannendsten Objekt des Volkskunstmuseums, nennt er aber nicht etwa ein bäuerliches Werkzeug, eine Tiroler Tracht oder einen kunstvoll bemalten Holzschrank, sondern eine kleine braune Filzkugel mit ein paar Zentimetern Durchmesser. Die Filzkugel war Teil eines Konvoluts von Objekten, das ihm eine Kollegin vor ein paar Jahren vorbeigebracht und gefragt hatte, ob sie für das Volkskunstmuseum interessant wären.

"Objekt unbekannter Verwendung"

"Wir haben uns diese Filzkugel angeschaut, sie war auf der einen Seite ein bisschen abgescheuert", erzählt Karl Berger. "Wir haben überlegt, was das sein könnte, aber wir wussten es nicht. Die Kollegin wusste es auch nicht. Wir haben ein paar Fachkolleginnen konsultiert. Vielleicht ist es etwas zum Stopfen? Dafür war es eigentlich etwas zu weich. Vielleicht ist es irgendwas im Bereich des Malerhandwerks? Es war jedenfall nicht sehr befriedigend. Aber gerade deswegen war es für uns interessant. Wir haben die Kugel inventarisiert mit der Bezeichnung 'Filzkugel' und dem Hinweis 'Objekt unbekannter Verwendung'."

Und so wanderte die rätselhafte Filzkugel ins Depot. Eine Zeitlang später meldete sich Roland Sila vom Landesmuseum Ferdinandeum bei Karl Berger und wollte mit ihm über ein Ausstellungsprojekt über das Vergessen sprechen. Es sollten Museumsobjekte gezeigt werden, von denen man nicht mehr weiß, was sie sind, wie sie funktionieren, aus welchem Material sie bestehen und dergleichen.

Verklumpung unverdaulicher Materialien

Karl Berger: "Ich habe ihm einige Objekte vorgeschlagen. Es war beispielsweise ein Metallwürfel dabei, wo wir vermuten, dass es ein Gewicht sein könnte, aber es nicht genau wissen, und eben diese Filzkugel. Er hat die Filzkugel angeschaut und gesagt, 'das ist interessant, es passt auch optisch sehr schön, das nehmen wir zur Ausstellung'."

So wurde die Filzkugel also ab 13. Dezember 2019 in der Ausstellung "Vergessen. Fragmente der Erinnerung" präsentiert und im Katalog abgebildet - und Anfang März 2020 wieder ins Depot geräumt. Dann läutete bei Karl Berger wieder das Telefon. Eine Kollegin war dran, die das neue Steinbockzentrum mit Freigehege und Museumsgebäude in St. Leonhard im Pitztal einrichtete. Sie war auf der Suche nach einem Bezoar. Das ist eine Verklumpung aus verschluckten unverdaulichen Materialien, die sich vor allem im Magen oder Pansen von Wiederkäuern bildet. Haare vom Ablecken des Fells werden durch die Verdauungsbewegungen verfilzt und können dadurch nicht mehr ausgeschieden werden.

Zur Abwehr von Krankheiten

"Ich haben ihr gesagt, hätten wir gerne, aber ich habe keines", erinnert sich der Leiter: "Es gibt ganz wunderbare Bezoare in der Kunstkammer in Wien beispielsweise, die mit Gold gefasst sind, ganz toll aufwendig gemacht. Und sie sagte: 'Ja, das glaube ich, das ist schwer zu finden', aber sie habe dieses Foto in der Publikation der Ausstellung über das Vergessen entdeckt, und es könnte sich hierbei um ein Bezoar handeln. Ob ich das kurz überprüfen könnte?"

Karl Berger zeigte also die Filzkugel einem Naturwissenschaftler des Ferdinandeum und der erkannte sofort, dass es sich um ein Bezoar aus Tierhaaren handelt. Bezoare wurden in der Volksmedizin zur Abwehr von Krankheiten verwendet und teilweise sogar aufwändig verziert. Sie seien mit ein Grund gewesen, warum der Steinbock in Tirol so intensiv gejagt wurde, dass er ausgerottet wurde, sagt Karl Berger. Als Beispiel dafür wird das Bezoar aus dem Volkskunstmuseum jetzt im neuen Steinbockzentrum gezeigt, das kürzlich eröffnet wurde.

"Unscheinbares Ding mit riesen Geschichte"

Doch warum ist die enträtselte Filzkugel für den Leiter des Tiroler Volkskunstmuseums so ein wichtiges Objekt? "Ich habe das Objekt ausgewählt, weil es zeigt was das Salz in der Suppe der Museumsarbeit ist. Da geht es viel um Verwaltung, technische Sachen, mitunter kann man auch forschen. Die Forschung funktioniert dann gut, wenn man zusammenarbeitet. In diesem Fall waren es Volkskunde, Ethnologie, ein Kulturhistorikerin, der Literaturwissenschaftler, ein Naturwissenschaftler. Das Zusammenwirken war bemerkenswert. Das Schöne ist, das Objekt befand sich im Depot und wird jetzt dauerhaft präsentiert werden. Ein kleines unscheinbares Ding mit einer riesen Geschichte."

Gestaltung

  • Sonja Bettel

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