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Radiokolleg

100 Jahre Österreichische Bundesverfassung

Am 1. Oktober 2020 wird die Österreichische Verfassung bzw. das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) 100 Jahre alt. Verfolgen wir die Spur ihrer Entstehung, so führt sie weit zurück in die wechselvolle Geschichte unseres Landes und erreicht ihren Gipfelpunkt in den Jahren zwischen 1918 und 1920, als sich Österreich von einer Monarchie in eine Republik verwandelt.

Otto Pfersmann

Professor an der Ècole des Hautes Ètudes en Sciences Sociales, Paris über die Verfassung zwischen Regelwerk und Identifikationsschrift.

Was ist das Besondere an einer Verfassung, vorallem an der österreichischen Verfassung?

Einerseits ist die Verfassung eine Sammlung von Regeln, die festlegen, wie der Staat funktioniert, wie er aufgebaut ist, welche Institutionen und Kompetenzen es gibt. Sie ist also das organisatorische Herz des Staates.

Diese Verfassungsregelungen stehen auf einer höheren Rechtsstufe im doppelten Sinn: Verfassungsrecht kann in Österreich nur durch eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat geschaffen werden und die Verfassung ist innerhalb der Rechtsordnung so etwas wie ihre Krone und ihre Wurzel zugleich. Sie steht an höchster Stelle, strahlt auf alles aus und regelt, wie Recht, auch Verfassungsrecht selbst, erzeugt wird.

Verfassung und Demokratie

Somit stehen alle Gesetze (und auch andere Rechtsnormen wie Verordnungen) in einem Verwandtschaftsverhältnis zur Verfassung. Indem dieses Verfassungsrecht im Parlament beschlossen wird, ist es demokratisch legitimiert, es kommt darin also der Volkswille zum Ausdruck, das heißt, wir entscheiden letztlich über "alles, was Recht ist".

Die Verfassung erhebt uns als Bürgerinnen und Bürger zum Souverän des demokratischen Staates (der die Form einer Republik hat, mit einem auf Zeit gewählten Bundespräsidenten an der Spitze). Bereits in Artikel 1 des 1920 beschlossenen Bundes-Verfassungsgesetzes wird das formuliert:

Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.

Das Bemerkenswerte daran ist, dass dem Recht in der österreichischen Verfassung die Hauptrolle zukommt. Es ist das Material, aus dem das Haus des Staates gebaut ist, es ist der Kitt, der die Einzelteile zusammenhält und die Menschen in einem gemeinsamen (Rechts-)Raum vereint. Nicht die "Gewalt", wie es in anderen Verfassungen heißt, liegt in der Hand des Volkes, sondern das "Recht". Das macht einen Unterschied, denn bereits sprachlich steht das Wort "Recht" in einem anderen Zusammenhang als "Gewalt".

Im Recht schwingt Möglichkeit der Entwicklung mit, ein "möglich Machen", ein Ausdehnen, Raum Einnehmen bis dahin, wo - durch dasselbe Wort - Beschränkung ausgedrückt wird. Changierend zwischen Fortbewegung und Bremsmanöver ist auch die Herangehensweise an die Verfassung, die Teil der Rechtsordnung ist und somit selbst Recht.

Vielleicht sollte man sie nicht in der Metapher des Hauses beschreiben, sondern eher als Wohnwagen, denn auch die Verfassung ist mobil. Noch besser trifft es das Bild einer beweglichen Brücke, denn die Verfassung ist das Bindeglied zwischen Mensch und Staat.

Verfassungsgerichtsbarkeit und Normenkontrolle

Die österreichische Verfassung hat noch eine weitere Besonderheit. Mit dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) wurde eine zentrale Instanz geschaffen, die über umfassende Kontrollbefugnisse verfügt, denn die Ausübung von Staatsmacht bedarf der Überprüfung. Der Verfassungsgerichtshof kann (auf Antrag) Gesetze und Verordnungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen. Dabei spielt auch ein zentraler Grundsatz der Verfassung eine große Rolle, das Legalitätsprinzip, festgehalten in Artikel 18 B-VG:

Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.

Büste eines Mannes

APA/HANS KLAUS TECHT

Der Jurist des 20. Jahrhunderts

Er war einer der brillantesten Rechtsgelehrten des 20. Jahrhundert - und ein politischer Theoretiker von Graden: Der aus Prag stammende Kleinunternehmersohn Hans Kelsen, der als Mitverfasser der österreichischen Bundesverfassung und als Autor bahnbrechender Schriften zu Rechtspositivismus, Staatsrecht und Demokratie unter anderem zu den Feindbildern der Konservativen und Völkischen seiner Zeit gehörte.
Salzburger Nachtstudio

Das Gesetz ist also die Handlungsgrundlage für Staatsorgane, um tätig werden. Jeder staatliche Akt basiert auf dem Gesetz. Dieses Gesetz muss so gestaltet sein, dass sich jene zurechtfinden können, die es vollziehen. Aber auch wir, als Bürgerin, als Bürger, müssen klar erkennen können, wie wir uns verhalten müssen, um gesetzeskonform zu handeln. Denn, dass wir als Bürgerinnen und Bürger "archivarischen Fleiß" bzw. "Lust zum Lösen von Denksport-Aufgaben" haben müssen, um Rechtsnormen richtig zu verstehen, das kann nicht von uns verlangt werden. (Der VfGH hat das in genau diesen Worten bereits 1956 bzw. 1990 festgestellt.)

Das Legalitätsprinzip trägt die Handschrift Hans Kelsens und ist einer der Angelpunkte der österreichischen Verfassung.

Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit kann man als "Lieblingskind" Hans Kelsens ansehen, der 1920 vom damaligen Staatskanzler Karl Renner mit der Ausarbeitung einer Bundesverfassung beauftragt wurde. Renner gab ihm zwei wesentliche Vorgaben: Österreich sollte eine Demokratie werden und ein Bundesstaat. Kelsen arbeitete mehrere Vorlagen aus, ging dabei immer auf die Ideen der Politik ein und nahm Anleihen von anderen Verfassungen, vor allem jener der Schweiz und der Weimarer Republik in Deutschland. Es war nicht überraschend, dass in manchen Punkten die weltanschaulichen Gegensätze keine Einigung zuließen und verschiedene Fragen ausgeklammert werden mussten bzw. auf alte Regelungen zurückgegriffen wurde. Letzteres war der Fall bei den Grundrechten.

Grundrechte

Das 1867 erlassene "Staatsgrundgesetz (StGG) über die Rechte der Staatsbürger" wurde 1920 ins Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) übernommen und blieb der einzige "Grundrechtskatalog", bis 1958, als Österreich der Europäischen Menschenrechtsrechtskonvention (EMRK) beitrat.

Grundrechte sind ein wichtiger Bestandteil einer Verfassung und wurden hart erkämpft. Sie bieten Schutz vor dem Staat und gewährleisten Freiheit, denn sie binden die gesamte Staatstätigkeit. In Österreich wurde nach der Revolution 1848 mit dem Kremsierer Verfassungsentwurf ein Grundrechtsschutz konzipiert, der weit in die Zukunft wies, aber nie umgesetzt wurde.

Christian Neschwara

Professor für Rechtsgeschichte an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien über die nicht erfolgte Umsetzung des zukunftsweisenden Kremsierer Verfassungsentwurfs.

Grundrechte, wie sie im StGG 1867, der EMRK und auch der Grundrechte Charta der Europäischen Union verwirklicht sind, können gerichtlich eingeklagt werden. In Österreich liegt die Zuständigkeit dafür primär beim Verfassungsgerichtshof.

Christoph Grabenwarter

Der Präsident des Verfassungsgerichtshofes erläutert den Unterschied zwischen Grundrechtseingriff und Grundrechtsverletzung.

Der VfGH ist als Wahlgerichtsbarkeit quasi Schiedsrichter. Dieser Umstand hat sich vor allem durch die Aufhebung der Bundespräsidenten Stichwahl 2016 gezeigt.

Die Verfassung ist ein ausgeklügeltes System von Machtverteilung und Machtkontrolle. Aber das beste Regelwerk hilft nichts, wenn es nicht mit Leben erfüllt wird. Dieses "Leben" kann man als Verfassungskultur bezeichnen. Erst durch den respektvollen Dialog miteinander bleibt das System aufrecht und stabil.

Anna Gamper

Die Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck unterstreicht, dass in Österreich eine funktionierende Verfassungskultur herrsche.

Resümee

Die Verfassung, lässt sich zusammenfassend sagen, ist das, was immer leise mitschwingt und nur manchmal laut herausgerufen werden muss.

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