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APA/DPA/MICHAEL KAPPELER

Logos

Antisemitismus: „Mit der Muttermilch aufgesogen“

Polizeigewalt in den USA hat Rassismus in all seinen Formen wieder weltweit zum Thema gemacht. Vor dem Hintergrund der „Black Lives Matter!“-Bewegung befasst sich Logos daher beispielhaft mit dem Antisemitismus und seinen christlichen Wurzeln - und geht der Frage nach: Wie juden-feindlich ist die „Frohe Botschaft“?

Das Phänomen an sich ist hoch komplex, betont der Antisemitismus-Experte Andreas Peham: „Ich begreife Antisemitismus als Diskurs, in den wir alle verstrickt sind.“ Er selbst verweist auf seine Herkunft: „Ich bin in einer oberösterreichischen Kleinstadt aufgewachsen. Ich habe, dank katholischer Kirche, den Antisemitismus von klein auf und metaphorisch gesprochen mit der Muttermilch aufgesogen.“

Codex Gigas

AP/CTK/RADEK PETRASEK

Harmlose Formulierung - fatale Wirkung

Andreas Peham ist seit den neunziger Jahren im "Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes" (DÖW) tätig - sowohl in der Forschung als auch in der Präventionsarbeit. Das Unheil kann, so Andreas Peham, mit relativ unauffälligen Formulierungen beginnen, wie er sie selbst vor gar nicht allzu langer Zeit in einer römisch-katholischen Kirche bei einer Erst-Kommunion hören konnte:

...als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren..

Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren … (Johannes-Evangelium, Kapitel 20, Vers 19) Bei Kindern, so Andreas Peham, die das Wort „Jude“ bis dahin vielleicht noch gar nicht wahrgenommen haben, werde damit „im Un- und Vorbewussten“ eine Verbindung hergestellt: Juden – das sind Menschen, vor denen man Angst haben muss.

„Ihr habt unseren Gott ermordet“

Das Phänomen „Antisemitismus“ ist komplex – und ebenso komplex ist es mit Geschichte und Theologie des Christentums verwoben. Seine heiligen Schriften, die an sich eine "frohe" Botschaft verkünden wollen, haben dabei eine wichtige Rolle gespielt: in einzelnen Passagen ebenso wie in ihrer inhaltlichen Grundtendenz, die „den Juden“ die Verantwortung am Kreuzestod des Jesus von Nazareth zu unterstellen scheint.

„Ihr habt unseren Gott ermordet“: Dieser Vorwurf sei bis heute das Fundament von jeder Form des Antisemitismus, betont der Experte Andreas Peham – mit der Folge: „Und daher sei Ihr verflucht bis in alle Ewigkeit.“ Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner spreche sogar von einem ‚Gründungsmythos‘ einer ganzen Zivilisation. In diesem Vorwurf seien bereits alle Versatzstücke des Antisemitismus enthalten.

Religiöse Versatzstücke

Denn die erste Lehre, so Andreas Peham, die daraus zu ziehen wäre, lautet: „Die Juden sind nicht nur böse – sondern vor allem mächtig. Weil: Wie mächtig muss denn eine Gruppe sein, die Gott oder Gottes Sohn ermorden kann?“ Daraus ergibt sich: „Vor dieser Gruppe muss ich Angst haben“. Und drittens: Dieser Gruppe traue ich nach ihrem „Urverbrechen“ – dem „Gottesmord“ – buchstäblich „alles“ zu.

Tatsächlich sei bis heute kein antisemitischer Diskurs völlig frei von religiösen Versatzstücken, sagt der Experte Andreas Peham: „Und das geht hinein bis in die radikalste Linke“. Erst vor wenigen Jahren hätten sogenannte „Anti-Imperialisten“ in Wien Flugblätter verteilt („gegen Globalisierung, gegen die USA und natürlich gegen Israel“): „Da sehen wir ganz groß ein Dollar-Zeichen, und darauf ist ein Mann - wie Jesus - gekreuzigt.“

„Wir haben unsere Wurzeln gekappt.“

„Wir müssen uns dieser verheerenden Rezeptions- und Wirkungsgeschichte stellen“, betont die Theologin Marlies Gielen – vom Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg. Sie verweist dabei auf die „heiden-christliche Arroganz“, mit der die jüdische Herkunft des Christentums systematisch verleugnet worden sei. „Wir haben unsere Wurzeln gekappt.“

Das habe sich in der theologischen Aufarbeitung der Shoah nach 1945 deutlich gezeigt, betont die Theologin Marlies Gielen. Die Kirchen seien „schlicht und ergreifend theologisch blank“ gewesen. Mit ihrem Verhältnis zum Judentum hätten sich nie theologisch fundiert befasst: „Und deswegen haben sie auch dem Rassenwahn des Nationalsozialismus theologisch überhaupt nichts entgegenzusetzen gehabt.“

Missverständliche Passagen

Viele Passagen in den Evangelien können antisemitisch gedeutet werden: Vom berühmten Ruf der Menge „Kreuzige ihn!“ (z.B. bei Markus, Kapitel 15, Vers 13) bis zum „Blutruf“ in der Matthäus-Passion („Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“). Johannes wird in diesem Zusammenhang besonders häufig zitiert – zum Beispiel aus dem 8. Kapitel, Vers 44: "Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt."

„Diese Stellen sind missverständlich, wenn man den Zusammenhang nicht kennt“, betont die Theologin Marlies Gielen. Die offensichtlich anti-jüdische Tendenz wurde früher als Polemik seitens der neuen Religion gegen ihre Herkunftsreligion gedeutet (wobei sich das junge Christentum aus Gründen der Opportunität auf die Seite der römischen Machthaber gegen das aufrührerische Judentum zu schlagen schien).

Vorwurf des „Gottesmord“ in der zweiten Hälft des Zweiten Jahrhunderts

„So weit sind wir hier noch nicht“, betont Marlies Gielen. Das Selbstverständnis der ersten Christinnen und Christen sei noch rein jüdisch. Die juden-feindliche (Fehl-)Interpretation sei erst eine Folge der Ablösung der Kirche von der Synagoge – lange nach Entstehung der Texte. Daher tauscht auch Vorwurf des „Gottesmordes“ erst viel später auf - bei Bischof Melito von Sardes (in der zweiten Hälft des Zweiten Jahrhunderts).

Realhistorisch betrachtet trägt die „Schuld“ am Kreuzestod des Jesus von Nazareth, darüber besteht heute weitestgehender Konsens in der Forschung, das Imperium Romanum, repräsentiert von seinem Statthalter Pontius Pilatus. Spätere Generationen haben daraus trotzdem – mit den biblischen Texten in der Hand – eine unauslöschliche Kollektivschuld des jüdischen Volkes konstruiert.

Anti-Judaismus vs. Antisemitismus

Terminologisch fordern viele eine klare Unterscheidung: zwischen einem christlichen Anti-Judaismus (religiös und theologisch motiviert) und dem rein rassistischen Antisemitismus, der letztlich zur Shoah geführt habe. Andraes Peham vertritt hingegen – bei aller Komplexität des Problems – die "Kontinuitätsthese": „Es gibt nur einen Antisemitismus, der zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Formen annimmt.“