CARITAS
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Evakuiert, aufgepäppelt, indoktriniert - Kinderlandverschickung
Kinder sollten eine Auszeit bekommen: von Krieg, Hunger, Gräuel und Trostlosigkeit. Während des 2. Weltkriegs ermöglichte die sogenannte erweiterte Kinderlandverschickung über zwei Millionen Kindern des Deutschen Reichs Wochen oder gar Monate bei Gasteltern oder in Gasthäusern zu verbringen.
29. November 2020, 02:00
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„Es hat uns nicht geschadet“, sagen die beiden 87-jährigen Damen, die als Mädchen im gesamten Klassenverband verschickt wurden. Die Zeit, die die Schülerinnen des Wiener Mädchengymnasiums Rahlgasse dann in Prein an der Rax verbrachten, war geprägt von Kollegialität, Angst um die Eltern, die den Bombenangriffen ausgesetzt waren, Alltag, aber auch Indoktrination.
Die sie nicht als solche begriffen: Apelle, Fahnen hissen und Nazilieder singen gehörte zum Alltag. Erst Jahre später verstanden sie, was die täglichen Rituale bedeutet hatten. Von Dezember 1943 bis September 1945 waren die Kinder und Jugendlichen in Niederösterreich, flohen dann unter der Obhut ihrer Lehrerinnen auf abenteuerliche Weise nach Kaprun in Tirol.
Das Wort „Evakuierung“ wurde vermieden
Im gesamten Deutschen Reich wurden im Rahmen der „erweiterten Kinderlandverschickungen“ zwischen 1940 und 1945 über zwei Millionen Kinder und Jugendliche Städten in sicherere Gebiete gebracht. Manche sprechen von bis zu fünf Millionen – genau weiß man es nicht, weil die Unterlagen zu Kriegsende zerstört wurden. 10-14-Jährige konnten Wochen oder gar Monate bei Gasteltern oder gemeinsam mit ihren Schulklassen in Gasthäusern verbringen. Österreichische Kinder blieben von der Möglichkeit, vor Bomben, Hunger und Mangelerkrankungen bewahrt zu werden allerdings bis 1943 ausgespart.
Das Wort „Evakuierung“ wurde tunlichst vermieden, um die prekär gewordene Lage des Reiches zu verschweigen. So griff man auf den bereits bekannten Begriff Kinderlandverschickung zurück, der nach dem 1. Weltkrieg geprägt wurde.
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Weg von Krieg, Hunger und Trostlosigkeit
Die Idee war: Kinder sollten eine Auszeit bekommen: von Krieg, Krankheiten, Hunger, Gräuel und Trostlosigkeit. Schon nach 1918 gab es Initiativen dafür, vor allem Schweden zeigte sich als großzügiges Gastgeberland. Aber auch deutschsprachige Familien aus Rumänien oder Ungarn erklärten sich bereit: Viele kleideten die Kinder neu ein und behandelten sie wie ihre eigenen- zwischen 250.000 und 300.000 wurden bis ungefähr 1923 im Ausland untergebracht.
Die letzten Kinderlandverschickungen im großen Stil fanden in den Jahren 1947 bis 1958 statt. Die Caritas etwa brachte 37.000 Kinder zum Aufpäppeln ins europäische Ausland, manche fuhren gleich mehrmals nach Belgien oder in die Schweiz, nach Holland oder Schweden, nach Dänemark oder Portugal.
Es gab auch die Spanienkinder, die zu Gastfamilien ins diktatorisch geführte Spanien Francos gebracht wurden, was das Regime propagandistisch auszuschlachten wusste. Die „niños de Austria“ waren die ersten, die aus Österreich in den international geächteten Staat geschickt wurden.
Was die Kinder einte: eine aufregende Zeit, die sie lebenslang prägte. Zeitzeuginnen und Zeitzeugen schilderten ihren Aufenthalt sehr unterschiedlich: als glückliche Zeit, die sie mit Gleichaltrigen verbringen konnten oder im Gegensatz dazu als schreckliche Monate, in denen sie gehänselt wurden und an Heimweh litten.
Im Stadtbild Wiens ist die Kinderhilfe bis heute präsent: mit der Holland- oder Dänenstraße, dem Schwedenplatz oder dem Schweizergarten.