Abgebranntes Moria

APA/AFP/ANGELOS TZORTZINIS

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Lesbos außer Kontrolle

Um die Katastrophe von Moria in ihrem Ausmaß zu verstehen, braucht es Zeit. Gespräche mit den verschiedensten Akteurinnen und Akteuren. Werben um Vertrauen u.a. So habe ich gleich nach dem Brand in Moria und auf Lesbos recherchiert. Und ich konnte auf Recherchen davor zurückgreifen.

Die Leitfragen dabei sind:
Wer trägt die Verantwortung dafür, dass Moria in Flammen aufging? Was haben die verschiedenen Akteure auf Lesbos mit dem Brand zu tun? Was muss geschehen, damit sich Moria nicht wiederholt? Und natürlich: Was sagen die Menschen, die in Moria gelebt haben, und nun im neuen Lager Kara Tepe leben.

Ich frage nach den Ambivalenzen von griechischen Behörden und EU-Instanzen, von Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern, die sich zwischen humanitärem Anspruch und Geschäftsinteressen bewegen. Indem ich Erkenntnisse und Stimmen gegenüberstelle, entsteht ein Bild, das überrascht: denn das Narrativ 'Gut gegen Böse' taugt hier nicht. Vielmehr wird ein Versagen der Vielen sichtbar, vor allem von Europas Institutionen.

Wer sind meine Protagonisten?

Ich lasse eine Reihe von Menschen aus dem Lager Moria zu Wort kommen, die über ihre Traumata und Ängste erzählen. Raid etwa, eine führende Stimme aus der syrischen Gemeinschaft. Er sagt: „Wir haben in Moria viele Bewohner durch Tod und Mord verloren. Es gab immer wieder extreme Gewalt. Vor allem Afrikaner haben darunter gelitten. Aber es hat keinen draußen interessiert. Die Menschen starben, ohne, dass jemand Notiz davon genommen hat.“

"Eine von der EU getriggerte, kriminelle Angelegenheit."

sagt Thomas von der Osten-Sacken, Stand by Me Lesbos (NGO)

Ich habe Zeugen gesucht dazu, die offen reden, (wer warum für das Versagen in Moria verantwortlich ist) und die kein Blatt vor den Mund nehmen. Das war nicht einfach. Ein internationaler Berater nennt die Vorgänge der letzten Monate „eine von der EU getriggerte kriminelle Angelegenheit, bei der rechtlich die Schwächsten der Schwachen den Preis zahlen“, also die Geflüchteten.

Zugleich sind auf Lesbos Helfer selbst Ziel frustrierter Inselbewohner. Der liberale Teil der Einheimischen wünscht sich mehr EU-Solidarität. Konservative oder rechtsradikale Insel-Bewohner unterstellen, das Tun der NGOs ermögliche erst die Migration nach Griechenland. Die beiden Seiten reden so gut wie nie miteinander. Das ist tragisch, weil viele Griechinnen und Griechen auf Lesbos selbst als Flüchtlinge mit ihren Familien einst aus der Türkei gekommen sind.

„Das Auftreten und Verhalten von NGO-Vertretern erinnert bisweilen an Neo-Kolonialismus.“

sagt Thomas Mavrofides, Professor für kulturelle Technologie und Kommunikation an der Ägäischen Universität von Mytilene.

Auch ausländische Helfer sind nicht immer unschuldig. Ein Wissenschaftler der Universität Mytilene erzählt mir von den vergangenen Jahren: „Das Auftreten und Verhalten von NGO-Vertretern erinnert bisweilen an Neo-Kolonialismus“. Damit müssen wir Europäer uns beschäftigen.

Ich stelle so investigativ Zusammenhänge her zwischen Akteuren, über die bisher meist nur isoliert berichtet wurde. So entsteht das Bild von Lesbos als einer Konfliktzone mitten in der EU. Nach zwanzig Jahren, die ich in Krisengebieten reise und arbeite, mache ich diese Entdeckung nun in Europa.

Menschen in Kara Tepe

Menschen in Kara Tepe

MARTIN GERNER

Was ist aus den Menschen im Lager Moria geworden?

Im neuen Lager Kara Tepe – so sagen viele - gehe es ihnen kaum besser als in Moria. Kara Tepe liegt direkt am Meer. Über 7.000 Menschen. Kaserniert, in über 1.000 Zelten, wie in Sardinendosen. Es stürmt und regnet in die Zelte rein. Manche stehen knöcheltief unter Wasser.

Zugleich fehlt es an Strom. Warmwasser und ausreichend Duschen: Fehlanzeige. Viele waschen sich, ihre Kinder und ihre Kleider nach wie vor im Meer. Und jetzt kommt der Winter, der bis null Grad gehen kann. Viele Kinder haben Durchfall. Depression und Apathie sind ohnehin verbreitet.

Die Sicherheit im Lager ist jetzt zwar besser. Aber die Menschen fühlen sich zunehmend rigide und aggressiv von der Polizei kontrolliert. Sie fürchten, dass man sie gefügig machen will für den Umzug ins neue Lager, das unter EU-Führung entstehen soll. Ob offene Asyl-Anträge bis dahin schneller und korrekt entschieden werden, bleibt eine, wenn nicht die größte Herausforderung.

Hier war die Schule in Moria.

Was von der Schule in Moria übrig blieb.

MARTIN GERNER

Eine große Untersuchung der EU fehlt

Im Feature porträtiere ich auch eine Schule von Flüchtlingen in Moria, wo täglich Hunderte Menschen in den Unterricht gingen. Sie war ein wichtiger Ort gegen Depression und Krankheit. Im neuen Lager sind unabhängige Flüchtlingsschulen, wie es sie in Moria gab, nicht mehr zugelassen.

Auch von aktuellen Push-Backs vor der Küste von Lesbos erzählt das Feature. Hier wird spannend sein zu sehen, ob der Druck auf Frontex anhält, um die EU-Grenzagentur besser zu kontrollieren.

All diese Punkte warten auf Aufklärung. Deshalb verwundert es, dass eine große Untersuchung in Griechenland und auf EU-Ebene bislang fehlt.
Das Feature kann wichtige Anstöße dafür liefern.

Text: Martin Gerner

ORF & ARD-Feature-Autor für Deutschlandfunk, recherchiert seit zwanzig Jahren in Kriegs- und Krisengebieten. Seine Features und Beiträge zur Konfliktanalyse für Hörfunk, Print und Dokumentarfilm sind international vielfach ausgezeichnet. Er ist Fellow am Institut für Medien und Kommunikation Köln.